Nahost

Das Drama von Rafah und der humanitäre Wille des Westens

Die Bevölkerung von Gaza wurde von Strom, Wasser, Nahrung, Treibstoff und Medikamenten abgeschnitten. Nach israelischen Vorstellungen soll nur noch der Grenzübergang Rafah für Hilfslieferungen zur Verfügung stehen. Eine Erpressung, die der Westen deckt.
Das Drama von Rafah und der humanitäre Wille des WestensQuelle: www.globallookpress.com © Mohammed Talatene

Von Dagmar Henn

Der Grenzübergang bei Rafah wird immer mehr zum Brennpunkt des Gaza-Konflikts. Seit Tagen stehen auf ägyptischer Seite Kolonnen von Lastwagen mit mindestens 3.000 Tonnen humanitärer Hilfslieferungen. Auch die jüngsten Lieferungen aus Russland, die über den ägyptischen Roten Halbmond gehen, werden vorerst in der Schlange am Grenzübergang Rafah enden.

Für die Bevölkerung des Gazastreifens sind diese Lieferungen eine Überlebensfrage. Rafah ist der einzige Grenzübergang zum Gazastreifen, der nicht über Israel führt. Die israelische Regierung hat wiederholt erklärt, keine Hilfslieferungen über israelisches Gebiet zuzulassen. Damit wird alles auf den Übergang von Ägypten nach Rafah gelenkt, der aber nach wie vor geschlossen ist.

Das Problem: zum einen blieb es bisher bei einer Absichtserklärung seitens Israels, und ob die Regierung Netanjahu die Lieferungen wirklich ins Land lässt, ist nach wie vor offen. Die Ankündigungen, nur Lebensmittel, Wasser und Medikamente zu akzeptieren (nicht aber Treibstoff, der nach wie vor etwa für die Notgeneratoren der Krankenhäuser benötigt wird, weil die Stromversorgung durch Israel vollständig unterbrochen ist), lässt bereits erkennen, dass selbst im Falle einer Öffnung von israelischer Seite die Verteilung der dringend benötigten Güter durch ausführliche Kontrollen der Ladungen verzögert werden wird.

Verschärft wird das Problem dadurch, dass auch Ägypten diesen Übergang ungern öffnet und bisher nur angekündigt hat, ihn stundenweise zu öffnen. Der Grund dafür ist durchaus nachvollziehbar: Ägypten fürchtet, dass eine Öffnung von Rafah einen Korridor öffnet, durch den die Palästinenser vertrieben werden sollen. Die gestrigen Äußerungen des israelischen Außenministers Eli Cohen, Gaza werde schrumpfen, weisen in diese Richtung, und die Tatsache, dass diese offizielle Aussage im Westen kommentarlos hingenommen wurde, verstärkt diesen Eindruck noch.

Auch humanitäre Organisationen, die im Gazastreifen tätig sind, sind sich dieser Gefahr bewusst. So schreiben die SOS-Kinderdörfer, die im Ort Rafah ein Kinderdorf betreiben, sie würden verschiedene Szenarien für die Evakuierung der Kinder vorbereiten, sollte sich die Lage weiter verschlechtern.

"Tatsache ist, dass es in ganz Gaza keinen sicheren Ort mehr gibt. Sogar Gebäude der Vereinten Nationen sind bereits zerstört worden."

Im Notfall wolle man die Kinder in zwei Wohnungen im Ort Rafah unterbringen, die aktuell als relativ sicher eingeschätzt würden. "Das zweite Szenario tritt ein, wenn den Kindern eine sichere Ausreise nach Ägypten ermöglicht würde – mit verbriefter Rückkehr-Garantie. In diesem Fall würde man die Kinder außer Landes bringen – und nach Gaza zurückkehren, sobald dort wieder Frieden herrscht", schreibt die Hilfsorganisation in ihrer Erklärung. Eine verbriefte Rückkehr-Garantie ist aber genau das, was von den israelischen Behörden vermutlich nicht zu haben sein wird. Selbst der Mitarbeiter, der die Lage dort beschreibt, bleibt aus Sicherheitsgründen lieber anonym.

Der US-Präsident Joe Biden hatte berichtet, die ägyptische Regierung werde 20 Lastwagen mit Hilfsgütern passieren lassen, ohne aber einen genauen Termin zu nennen. Derzeit muss erst die Infrastruktur des Grenzübergangs wiederhergestellt werden – Israel hatte ihn bombardiert.

Ginge es nach dem humanitären Völkerrecht, wäre die Lage klar. Danach ist bereits die Art der Blockade, die Israel über den Gazastreifen verhängt hat, verboten, ganz zu schweigen von einer Behinderung humanitärer Lieferungen.

Um eine Bevölkerung von zwei Millionen Menschen, die keinen Zugang zu sauberem Wasser mehr hat, auch nur am Leben zu halten, bräuchte es allerdings mehr als nur einen Zugang zu dem langgestreckten Territorium. Schließlich ist durch die permanente Bombardierung nicht einmal mehr garantiert, dass Lieferungen über Rafah, sofern dieser Übergang tatsächlich geöffnet wird, den gesamten Gazastreifen erreichen können.

Irgendein Druck aus dem Westen auf Israel, das humanitäre Völkerrecht zu achten, das sowohl die Blockade als auch eine Vertreibung untersagt, ist bisher allerdings nicht zu beobachten. Bezogen auf eine Vertreibung haben bereits mehrere arabische Länder erklärt, sie würden dies als Kriegserklärung bewerten. Die größten Aussichten, eine Einhaltung des Rechts zu erzwingen, hätten dennoch allerdings die Vereinigten Staaten von Amerika und die Europäische Union.

Solange aber Politiker wie der deutsche Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius nach Israel reisen, um dort "ein Zeichen der Solidarität zu setzen", mit dem expliziten Ziel, den israelischen Verteidigungsminister Joaw Galant zu treffen, der jüngst erklärt hatte, sie – die Israelis – kämpften gegen "menschliche Tiere", und mit diesem die Lieferung von Rüstungsgütern zu besprechen, ist jede positive Erwartung an die westlichen Staaten verfehlt.

Die langfristigen Folgen sind noch nicht absehbar. Ganz gleich, wie der momentane Konflikt enden wird – in den arabischen Ländern, mehr noch, in der gesamten muslimischen Welt wird die Weigerung des Westens, noch die einfachsten humanitären Grundsätze durchzusetzen, bei Weitem aufmerksamer wahrgenommen als im Westen selbst. Schließlich geht es bei der Frage dieser humanitären Lieferungen um das grundlegendste der sonst so oft und gern im Westen betonten Menschenrechte: um das Recht auf Leben. Die Unfähigkeit des UN-Sicherheitsrats, zuletzt wieder durch das Veto der USA, eine Resolution zu verabschieden, die auch nur das absolute Minimum fordert, nämlich eine Waffenruhe und eine Beendigung der humanitären Not, ist weltweit kaum misszuverstehen.

Selbst um nur die Möglichkeit sicherzustellen, das Elend über den Grenzübergang Rafah zu lindern, wären verbindliche Zusagen nötig, dass dieser Übergang nicht für eine endgültige Vertreibung der Palästinenser genutzt wird.

Den Willen, die israelische Regierung durch eine Anlieferung über einen anderen, auf israelischem Gebiet liegenden Übergang herauszufordern, besitzen bisher weder die westlichen Länder noch deren Hilfsorganisationen. Dabei ist es genau diese nicht vorhandene Bereitschaft Israels, eine Lieferung über solche existierenden Übergänge zuzulassen, die die Vermutung verstärken, es ginge um die Möglichkeit der Vertreibung, weshalb es eigentlich vernünftig wäre, eben nicht zu akzeptieren, dass Rafah der einzig mögliche Zugangspunkt sein soll. Das Manöver, Rafah zum einzigen Tor zu machen, soll Ägypten vor die Wahl stellen, entweder die humanitäre Katastrophe hinzunehmen oder womöglich zum Gehilfen der Vertreibung zu werden.

Es gäbe natürlich noch eine weitere Möglichkeit: eine Versorgung über das Meer. Dieser Weg führte ebenfalls nicht über israelisches Gebiet, wäre aber nicht mit der Gefahr der Vertreibung verknüpft. Aber auch diese Variante wird von den westlichen Ländern nicht verfolgt. Man wartet ab und sieht zu, wie sich die – selbst zu besten Zeiten stets schwierige – Lage in Gaza weiter verschärft und sieht sich nicht einmal in der Pflicht, das Minimum an Respekt vor menschlichem Leben durchzusetzen.

Währenddessen wird die Lastwagenkolonne am Grenzübergang Rafah zu einem Symbol westlicher Gleichgültigkeit, das sich tief in das kollektive Gedächtnis der übrigen Welt einbrennen wird.

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