Dmitri Trenin: Russland erlebt einen enormen Wandel – und der Westen ist blind dafür
Von Dmitri Trenin
Nach zweieinhalb Jahren Krieg gegen den Westen in der Ukraine befindet sich Russland zweifellos auf dem Weg zu einem neuen Selbstverständnis.
Der Trend war bereits vor der militärischen Sonderoperation zu beobachten, hat sich aber durch diese wesentlich verstärkt. Seit Februar 2022 leben die Russen in einer völlig neuen Realität. Zum ersten Mal seit dem Jahr 1945 befindet sich das Land wirklich im Krieg. Entlang einer 2.000 Kilometer langen Frontlinie wird erbittert gekämpft, und das nicht allzu weit von Moskau entfernt. Belgorod, ein regionales Zentrum an der Grenze zu Ukraine, ist ständig tödlichen Raketen- und Drohnenangriffen der ukrainischen Streitkräfte ausgesetzt.
Gelegentlich dringen ukrainische Drohnen weit ins Landesinnere vor. In Moskau und anderen Großstädten geht das Leben dennoch weiter, als gäbe es keinen Krieg und (fast) keine westlichen Sanktionen. Die Straßen sind voller Menschen, in den Einkaufszentren und Supermärkten gibt es die gewöhnliche Fülle an Waren und Lebensmitteln. Man könnte zu dem Schluss kommen, dass Moskau und Belgorod zwei unterschiedlichen Ländern angehörten und dass es den Russen gelänge, gleichzeitig im Krieg und im Frieden zu leben.
Doch das wäre eine falsche Schlussfolgerung. Selbst der Teil des Landes, der vermeintlich "im Frieden" lebt, unterscheidet sich deutlich von dem, was er vor Beginn des Ukraine-Konflikts war. Das zentrale Thema des postsowjetischen Russlands – das Geld –bleibt natürlich bestehen, aber es verlor seine unbestrittene Dominanz. Wenn viele Menschen – nicht nur Soldaten, sondern auch Zivilisten – getötet werden, kehren andere, nicht-materielle Werte zurück. Der Patriotismus, der nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion geschmäht und verspottet wurde, kommt mit Macht wieder zum Vorschein. Hunderttausende Menschen melden sich auch ohne eine neue Mobilmachung als Zeitsoldaten zum Militärdienst. Sie werden von dem Wunsch angetrieben, dem Land zu helfen, nicht nur von Vorteilen, die sie daraus ziehen können.
Die russische Popkultur wird – vielleicht langsam, aber stetig – die Gewohnheit los, das zu imitieren, was im Westen angesagt ist. Stattdessen werden die Traditionen der russischen Literatur, einschließlich Poesie, des Films und der Musik wiederbelebt und weiterentwickelt. Der Inlandstourismus erlebt ein sprunghaftes Wachstum an Popularität, während die Russen die Schätze ihres eigenen Landes entdecken. Diese wurden bisher vernachlässigt, da das Verlangen nach Reisen ins Ausland noch nicht gestillt war. (Auslandsreisen sind nach wie vor möglich, aber die komplizierte Logistik macht den Weg in einige Teile Europas schwieriger als früher).
Politisch gesehen hat das bestehende System keine nennenswerte Opposition. Fast alle ehemaligen Repräsentanten der Opposition sind im Ausland, und Alexei Nawalny starb im Gefängnis. Viele ehemalige kulturelle Ikonen, die nach dem Februar 2022 beschlossen haben, nach Israel, Westeuropa oder woandershin auszuwandern, werden schnell zu Prominenten von gestern, während das Land sich fortbewegt. Jene russischen Journalisten und Aktivisten, die Russland aus der Ferne kritisieren, verlieren zunehmend den Kontakt zu ihrem früheren Publikum und müssen sich den Vorwurf gefallen lassen, den Interessen der Länder zu dienen, mit denen Russland im Stellvertreterkrieg in der Ukraine kämpft. Gleichzeitig sind fast zwei Drittel der jungen Männer zurückgekehrt, die Russland im Jahr 2022 aus Angst vor der Mobilmachung verließen, einige von ihnen ziemlich verbittert durch ihre Erfahrungen im Ausland.
Putins Worte über die Notwendigkeit einer neuen nationalen Elite und die Förderung von Kriegsveteranen als Kern dieser Elite sind zum jetzigen Zeitpunkt eher eine Absicht als ein wirklicher Plan, aber die russische Elite durchläuft definitiv einen enormen Wandel. Viele liberale Magnaten gehören im Grunde nicht mehr zu Russland. Ihr Wunsch, ihr Vermögen im Westen zu halten, trennte sie schließlich von ihrem Heimatland.
Diejenigen, die in Russland geblieben sind, wissen, dass ihnen die Jachten im Mittelmeer, Villen an der Côte d’Azur und Villen in London nicht mehr zur Verfügung stehen, oder zumindest nicht mehr sicher sind. In Russland zeichnet sich ein neues Modell eines mittelständischen Unternehmers ab, der Geld mit sozialem Engagement verbindet (nicht das Modell der Environmental Social Governance) und der seine Zukunft im Lande aufbaut.
Die russische politische Kultur findet zu ihren Wurzeln zurück. Anders als im Westen, aber in gewisser Weise ähnlich wie im Osten, basiert sie auf dem Modell der Familie. Hier gibt es eine Ordnung und eine Rangordnung, Rechte werden durch Pflichten ausgeglichen, der Staat ist kein notwendiges Übel, sondern das wichtigste öffentliche Gut und der höchste gesellschaftliche Wert. Politik im westlichen Sinne, als ständiger, oft kompromissloser Wettbewerb, wird als eigennützig und zerstörerisch angesehen. Stattdessen wird von denjenigen, die mit der Leitung des Staates betraut sind, erwartet, dass sie vermitteln, für Harmonie zwischen den verschiedenen Interessen sorgen und so weiter. Selbstverständlich ist dies eher ein Ideal als die Realität. In der Realität sind die Dinge komplexer und komplizierter, aber die traditionelle politische Kultur ist in ihrem Kern gesund und lebendig. Sie wurde in den vergangenen 30 bis 40 Jahren nicht umgestürzt, wenn diese Zeit auch lehrreich und einflussreich war.
Auch die russische Position gegenüber dem Westen ist komplex. Man schätzt die klassische und moderne (aber nicht so sehr die postmoderne) westliche Kultur, Kunst und Technologie sowie bis zu einem gewissen Grad den Lebensstandard. In letzter Zeit wurde das bisher unverfälschte positive Bild des Westens als Gesellschaft durch die aggressive Förderung von LGBTQ-Werten, die Cancel Culture und Ähnliches beeinträchtigt. Was sich ebenfalls geändert hat, ist der Blick auf die westlichen Richtlinien, die Politik und insbesondere die Politiker, die den Respekt verloren haben, den die meisten Russen ihnen einst entgegenbrachten. Die Vorstellung des Westens als Russlands Erbfeind gewinnt wieder an Bedeutung – nicht in erster Linie wegen der Kreml-Propaganda, sondern wegen der eigenen Politik des Westens, von der Versorgung der Ukraine mit Waffen, die russische Soldaten und Zivilisten töten, über Sanktionen, die in vielerlei Hinsicht willkürlich sind, bis hin zu Versuchen, die russische Kultur abzuschaffen oder Russen vom Weltsport auszuschließen. Dies hat nicht dazu geführt, dass die Russen einzelne Einwohner der westlichen Länder als Feinde betrachten, aber der Westen der Politik und der Medien wird hierbei weithin als ein Haus von Gegnern gesehen.
Es besteht ein klarer Bedarf an einer Reihe von Leitideen darüber, "wer wir sind", "wo wir in dieser Welt stehen" und "wohin wir gehen". Das Wort "Ideologie" ist jedoch bei vielen Menschen zu eng mit der Steifheit des sowjetischen Marxismus-Leninismus verbunden. Was auch immer letztendlich entsteht, wird wahrscheinlich auf dem wertegeleiteten Fundament traditioneller Religionen aufgebaut, angefangen mit der russischen Orthodoxie, und wird Elemente aus unserer Vergangenheit einbeziehen, einschließlich der Periode vor Peter dem Großen, der kaiserlichen und sowjetischen Zeit. Die gegenwärtige Konfrontation mit dem Westen macht es dringend erforderlich, dass sich endlich eine Art neues ideologisches Konzept herausbildet, in dem Souveränität und Patriotismus, Recht und Gerechtigkeit eine zentrale Rolle spielen. Die westliche Propaganda bezeichnet dies abwertend als "Putinismus", aber für die meisten Russen kann es einfach als "Russlands Weg" beschrieben werden.
Gewiss gibt es Menschen, die mit der Politik unzufrieden sind, die ihnen bestimmte Möglichkeiten verwehrte. Insbesondere wenn die Interessen dieser Menschen hauptsächlich in Geld und individuellem Wohlstand bestehen. Diejenigen in dieser Gruppe, die nicht ins Ausland gegangen sind, bleiben ruhig da, haben Bedenken und hoffen heimlich, dass die "gute alte Zeit" irgendwie, koste es, was es wolle, zurückkehrt. Sie werden wahrscheinlich enttäuscht werden. Was die Veränderungen innerhalb der Elite betrifft, so ist Putin bestrebt, dem System frisches Blut und neuen Schwung zu verleihen.
Es sieht nicht so aus, als stünde eine Art "Reinigung" bevor. Dennoch werden die Veränderungen angesichts des Altersfaktors erheblich sein. Die meisten der derzeitigen Amtsinhaber in den Spitzenpositionen sind über 70 Jahre alt. Innerhalb der nächsten sechs bis zehn Jahre werden diese Positionen an jüngere Leute gehen. Es ist eine wichtige Aufgabe für den Kreml, das Erbe Putins zu sichern. Bei der Nachfolge geht es nicht nur darum, wer am Ende an der Spitze steht, sondern auch darum, wodurch sich die neue "regierende Generation" auszeichnen wird.
Übersetzt aus dem Englischen.
Dmitri Trenin ist Forschungsprofessor und Institutsdirektor an der Fakultät für Weltwirtschaft und Weltpolitik der Moskauer Higher School of Economics sowie leitender Forscher am Nationalen Forschungsinstitut für Weltwirtschaft und internationale Beziehungen der Russischen Akademie der Wissenschaften.
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