Lenin wäre stolz auf euch: Heuchelei als Merkmal westlicher Politik
von Nebojša Malić
Das litauische Parlament hat am vergangenen Dienstag mit überwältigender Mehrheit ein Gesetz verabschiedet, das die Inhaftierung von Asylbewerbern ermöglicht sowie deren Recht auf eine Berufung im Asylantragsverfahren einschränkt. In der vergangenen Woche hat der baltische Kleinstaat zudem damit begonnen, Stacheldrahtzäune entlang seiner Grenze zu Weißrussland hochzuziehen, nachdem Litauens Außenminister Minsk vorgeworfen hatte, "Migration als Waffe zu missbrauchen". Die meisten illegalen Grenzgänger sind jedoch keine Weißrussen, sondern kommen aus dem Irak, Iran, Afghanistan und Syrien. Für sie ist Weißrussland lediglich ein Transitland. Die EU, deren Mitglied Litauen ist, hat Vilnius in seinem Vorgehen unterstützt, auch wenn sie die Stacheldrahtzäune nicht mit allzu vielen Worten gutgeheißen hat.
Als jedoch Ungarn 2015 exakt dasselbe getan und eine Stacheldrahtsperre entlang der Grenze zu Serbien hochgezogen hatte, reagierte Brüssel mit heller Empörung. Die Regierung in Budapest wurde als rassistisch, unmenschlich und unmoralisch an den Pranger gestellt. Der luxemburgische Premierminister forderte gar, Ungarn aus der Union zu verbannen. Ein EU-Gericht erklärte schließlich, dass das ungarische Vorgehen gegen Asylsuchende und Migranten illegal sei. Doch der ungarische Zaun funktionierte offensichtlich. Seit Beginn der Flut von Migranten aus dem Nahen Osten im Jahr 2015 ging nach Angaben ungarischer Behörden die Zahl der illegalen Grenzübertritte nach Ungarn bis September 2017 um über 99 Prozent zurück.
Man kann förmlich die Einwände hören: "Moment, das ist was anderes! Das kann man nicht vergleichen!" Wie genau ist das anders und nicht vergleichbar? Anders, weil Litauen behauptet, der Anstieg illegaler Grenzübertritte aus Weißrussland sei politisch motiviert? Hatte damals nicht auch Ungarn dasselbe gesagt und auf die Türkei hingewiesen, die der EU gedroht hatte, die Flut der Migration loszulassen, wenn die syrischen "gemäßigten Rebellen" nicht unterstützt werden?
Millionen Migranten – nur ein Teil davon Syrer – sind seitdem in die EU eingewandert. Wenn einige von ihnen dann dort abscheuliche Verbrechen begehen, verteidigen lokale Regierungen und Verfechter der "sozialen Gerechtigkeit" sie gegen "Rassismus" und "Ausgrenzung". Warum also ist es unmoralisch, wenn Ungarn einen syrischen Migranten einsperrt, wenn es hingegen Litauen tut, ist es moralisch vertretbar? Die Antwort ist: Politik.
Litauen behauptet, es werde von Weißrussland "ins Visier genommen", weil das Land unverblümte Kritik am weißrussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko äußert und zudem "der wichtigsten weißrussischen Oppositionsführerin", Swetlana Tichanowskaja, Asyl gewährt. Litauen wirft Lukaschenko vor, die Migranten nach Litauen als Vergeltung für die Sanktionen der EU gegen Weißrussland durchreisen zu lassen, die wegen "Menschenrechtsverletzungen" verhängt wurden.
Interessanterweise haben auch die USA keinen Ton von sich gegeben, als Litauen – ein NATO-Mitglied – diese neuen Grenzzäune errichtete. Die derzeitigen Machthaber in Washington, die Demokraten, hatten sich in den vergangenen vier Jahren die Kehlen heiser geschrien, um die von Präsident Donald Trump vorgeschlagene – und teilweise errichtete – Grenzmauer zu Mexiko als "unmoralisch" und "rassistisch" anzuprangern. Eine der ersten Maßnahmen, die sein Nachfolger Joe Biden traf, war, den Bau dieser Mauer zu stoppen, gefolgt von einer Lockerung der Einwanderungsbestimmungen.
Wenig überraschend haben in der Folge etwa eine Million Menschen illegal die US-amerikanisch-mexikanische Grenze überschritten. Das Weiße Haus besteht weiterhin darauf, dass es keine "Krise" an der Grenze gebe. Litauen hingegen ruft wegen ein paar Hundert Migranten einen nationalen Notstand aus.
In einer weiteren ironischen Wendung begann Litauen ausgerechnet zum selben Zeitpunkt mit dem Bau seiner Grenzzäune, als die Stacheldrahtbarrieren rund um das US-Kapitol wieder abgebaut wurden, die nach dem 6. Januar – dem Tag des "Sturms aufs Kapitol" – errichtet worden waren. Ja! Dieselben Leute, die vier Jahre lang damit verbracht haben, eine Mauer an der amerikanisch-mexikanischen Grenze als unmoralisch, rassistisch, böse oder was auch immer zu verurteilen, aber 25.000 Soldaten der Nationalgarde willkommen hießen, die Washington besetzten, um Biden vor der – wie sich herausstellte, komplett herbeifantasierten – Bedrohung durch eine "Miliz" zu beschützen, sich aber dem Einsatz ebendieser Truppen widersetzten, als im Sommer 2020 die USA von gewalttätigen Rassenunruhen heimgesucht worden waren.
Man könnte sagen: Heuchelei. Nach den allgemein geltenden Regeln, Gesetzen und der Logik wäre das zutreffend. Nicht aber in der im Westen tatsächlich geltenden "regelbasierten Ordnung", mit der als oberstes Prinzip die Erkenntnis des Gründers der Sowjetunion Wladimir Lenin verinnerlicht zu sein scheint, dass es in der Politik "nicht darum geht, was getan wird, sondern wer es tut und gegen wen es sich richtet".
Dieser Logik folgend ist eine Grenzmauer zu Mexiko oder der Grenzzaun zu Weißrussland an sich nicht unmoralisch: Es ist gut, wenn das von "uns" errichtet wird, weil wir per definitionem nichts falsch machen können. Es ist jedoch böse, wenn es "die Anderen" errichten, die per definitionem nichts Gutes im Schilde führen können. Und wer legt die Definitionen fest? Die jeweils aktuellen Machthaber natürlich!
Herzlichen Glückwunsch, Litauen. Lenin wäre stolz auf euch.
Übersetzt aus dem Englischen. Nebojša Malić ist ein serbisch-US-amerikanischer Journalist, Blogger und Übersetzer, der von 2000 bis 2015 eine regelmäßige Kolumne für Antiwar.com schrieb und heute Autor bei RT ist. Man kann ihm auf Telegram unter @TheNebulator und auf Twitter unter @NebojsaMalic folgen.
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