Meinung

Warum ich als Ukrainer nichts von der "Unabhängigkeit" meines Landes halte

Der ukrainische Journalist und Lateinamerika-Experte Oleg Jassinski wird oft, zumeist rhetorisch, gefragt, warum er so viel auf die Unabhängigkeit Kubas gibt und so wenig auf diejenige seiner Ukraine. In dem vorliegenden Beitrag gibt er eine Antwort.
Warum ich als Ukrainer nichts von der "Unabhängigkeit" meines Landes halteQuelle: Sputnik © Waleri Melnikow, RIA Nowosti

Von Oleg Jassinski

Ich werde noch einmal versuchen, eine der in meinen Augen unpassendsten Fragen zu beantworten. Warum bin ich so sehr für die Unabhängigkeit Kubas von den USA und gleichzeitig so gleichgültig gegenüber der Souveränität der Ukraine?

Unabhängigkeit oder Freiheit existieren niemals in einem Vakuum oder in chemisch reiner Form. Formale Definitionen an sich, ohne einen lebendigen sozialen Inhalt, haben keinen Wert.

Die Unabhängigkeit Kubas von den Vereinigten Staaten als Ergebnis der Revolution von 1959 ermöglichte es, auf der Insel der Freiheit unerhörte soziale Reformen in Gang zu setzen, das Analphabetentum auszumerzen, allen Einwohnern eine angemessene Bildung zu ermöglichen und die Lebenserwartung sowie die Überlebensrate von Kindern auf das Niveau der reichsten Länder der Welt anzuheben. Es wurde eine Kultur der menschlichen Solidarität und der Nächstenliebe geschaffen. Die Befreiung Kubas von dem Einfluss der Vereinigten Staaten war die erste Voraussetzung für den Aufbau einer gerechteren und menschlicheren Gesellschaft auf der Insel. Vieles ist erreicht worden, vieles nicht, die Gründe für Letzteres sind jetzt nicht das Thema.

Die "Unabhängigkeit" der Ukraine von der UdSSR und die ungezügelte antirussische Tendenz der ukrainischen Behörden, begleitet von einer Masse offizieller Lügen und einer Hasskampagne gegen jede abweichende Meinung, haben die ukrainische Gesellschaft in einen tiefen Verfall geführt. Im Gegensatz zur Geschichte der Beziehungen zwischen den USA und Lateinamerika waren die UdSSR und die Russische Föderation nicht nur nie ein Hindernis für die menschliche, wissenschaftliche, kulturelle und wirtschaftliche Entwicklung des ukrainischen Volkes, sondern sie waren im Gegenteil ein entscheidender Faktor für diese Entwicklung. Die massenhaften irrsinnigen Lügen, die das Gegenteil behaupten, ähneln den Argumenten des Terraplanismus, nur sind sie noch absurder.

Der Prozess der Selbstzerstörung der Ukraine in den letzten 30 Jahren ist direkt proportional zu ihrer Entfremdung von Russland. Die Rehabilitierung des Nationalsozialismus ist nicht das Recht souveräner Nationen, sondern liegt außerhalb jeglichen Rechts. Sie richtet sich gleichzeitig gegen alle Nationen, auch gegen die eigene.

Echte Unabhängigkeit wäre nur nach Ausweisung der westlichen Kuratoren möglich. Sie würde ein Höchstmaß an politischer Neutralität, den Aufbau guter Beziehungen zu allen Nachbarn einschließlich Russlands und vor allem eine Sozialpolitik des Staates im Interesse der eigenen Bürger bedeuten. Bislang und in zunehmendem Maße sehen wir in der Ukraine das genaue Gegenteil.

Ohne diese Voraussetzungen ähnelt alles Gerede über Unabhängigkeit der Verteidigung der persönlichen Freiheitsrechte eines bewaffneten aggressiven Verrückten. Es ist zumindest unklug, die Macht zu verteidigen, die zuerst ihre eigenen Bürger ausgeraubt hat und sie jetzt zur Schlachtbank schickt. Und es ist absolut töricht zu glauben, dass "später, nach dem Sieg", die "Fehler" dieser Macht "korrigiert werden können". Das Raubtier, das Menschenblut gekostet hat, wird sich nicht mehr vegetarisch ernähren. Viele Ukrainer sind sich immer noch nicht darüber im Klaren, dass ihr Land zum Abendessen mit den "westlichen Partnern" nur als Gericht auf dem Teller eingeladen ist. Die spezifischen Beziehungen der Ukraine zur NATO sind der eindrucksvolle Beweis dafür.

Es geht also keineswegs um kontroverse historische Theorien und Putins Lieblingsphilosophen. Diese sind im aktuellen Krieg zweitrangig. Die vorgetäuschte Unabhängigkeit der Ukraine wird von den USA und den Konzernen als Instrument zur Eroberung des gesamten postsowjetischen Raums benutzt, der Appetit des kollektiven Westens reicht bis nach China. Daher besteht die einzige Chance der Ukrainer auf echte Unabhängigkeit darin, gemeinsam mit Russland die Reste des gesunden Menschenverstands und die Waffen beiderseits der aktuellen Frontgräben gegen den Westen zu richten.

Oleg Jassinski (englische Transliteration Yasinsky), ein aus der Ukraine stammender Journalist, lebt überwiegend in Chile und schreibt für RT Español sowie unabhängige lateinamerikanische Medien wie Pressenza.com und Desinformémonos.org. Er forscht über indigene und soziale Bewegungen in Lateinamerika und produziert politische Dokumentarfilme in Kolumbien, Bolivien, Mexiko und Chile. Außerdem ist er bekannt als Übersetzer von Texten von Eduardo Galeano, Luis Sepúlveda, José Saramago, Subcomandante Marcos und anderen ins Russische. Man kann ihm auch auf seinem Telegram-Kanal folgen.

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