Meinung

Die Einübung der Käuflichkeit oder: Wie die deutsche Politik ihre Moral verlor ‒ Teil 2

Selbst in der westlichen Republik herrschte einmal eine Moral, die Unterwürfigkeit und ungezügeltes Streben nach Reichtum verachtete. Im Verlauf einer Generation ist davon nichts mehr übrig. Stattdessen erinnert das Land immer mehr an das Frankreich der Marie Antoinette.
Die Einübung der Käuflichkeit oder: Wie die deutsche Politik ihre Moral verlor ‒ Teil 2Quelle: www.globallookpress.com © IMAGO/STAR-MEDIA

Von Dagmar Henn

Wie prägend dieser Kodex war, wird erst sichtbar, wenn man sein Verschwinden feststellt. Individuelles Gewinnstreben wird nicht nur in den Medien als Tugend gepriesen, auch innerhalb der Gesellschaft ist die leise Verachtung, mit dem ihm damals weithin begegnet wurde, inzwischen verschwunden. Mehr noch – die Willfährigkeit gegenüber dem Reichtum zeigt sich nicht nur in der Vergötterung von Personen wie Bill Gates, sondern bis in die kleinsten Ebenen. Und es ist nicht nur die Wiederbelebung des Starkults in den 1980ern, die das befördert hat; ein anderer Aspekt der neoliberalen Politik hat wesentlich dazu beigetragen.

Das sind die langfristigen Folgen der Steuerpolitik. Ein zentraler Punkt für alle neoliberalen Regierungen, auch die deutschen, war immer, die Steuern für die Wohlhabenden zu senken. Für die Staatshaushalte eröffnet das eine Spirale nach unten, denn sie müssen auf die Löhne zurückgreifen, die ihrerseits immer stärker unter Druck stehen, sprich, bei denen immer weniger zu holen ist. Das Ergebnis sind dann Kürzungen; erst in den Bereichen, in denen man meint, folgenlos kürzen zu können, wie bei Sozialem oder Kultur, und dann auch bei der Erhaltung der wichtigen Infrastruktur.

Das zeigt einen der tiefen Widersprüche des Neoliberalismus – letzten Endes führt er nämlich zu einer dysfunktionalen Gesellschaft. Normalerweise erfüllt in einer kapitalistischen Gesellschaft der Staat bzw. die Politik eine ganz bestimmte Funktion, das, was so böse Menschen wie ich den ideellen Gesamtkapitalisten nennen. Dabei geht es im Grunde um einen ganz einfachen Sachverhalt.

Während der einzelne Firmenbesitzer bestrebt ist, möglichst wenig Steuern zu zahlen, sind sie doch alle, in ihrer Gesamtheit, darauf angewiesen, dass die Straßen befahrbar sind und die Kinder Lesen und Schreiben lernen. Das heißt, der gesamte politische Apparat mit seinen parlamentarischen Debatten hat die Aufgabe, die Interessen der Gesamtheit der Unternehmer gegen die Interessen der Einzelnen durchzusetzen. Ein Problem, das übrigens feudale Gesellschaften auch schon hatten und mit unterschiedlichem Erfolg durch ein komplexes System persönlicher Loyalitäten zu lösen suchten, bis der wirtschaftliche Zwang zu größerer Zentralisierung zur Entstehung des Absolutismus führte.

Die sichtbare Konsequenz des Neoliberalismus ist nun, dass diese Aufgabe des ideellen Gesamtkapitalisten nur noch mangelhaft oder gar nicht erfüllt wird. Im Gegenteil. Die immer höhere Konzentration des Kapitals in immer weniger Händen führt dazu, dass einzelne Oligarchen unter Umständen den Apparat im eigenen Interesse kapern können, um gegen das Interesse aller Konkurrenten einen Extragewinn herauszuschlagen. Derartige Vorgänge prägten die gesamte Corona-Politik, in der das volkswirtschaftliche Interesse völlig hinter einzelnen Profitmachern verschwand.

Die beständige Knappheit der Mittel, zu der diese Steuerpolitik führt, gibt ein enormes Feld frei, auf dem Geld zum Machterwerb eingesetzt werden kann. Es gibt kaum noch politische Ebenen oder Institutionen, die nicht auf die eine oder andere Weise auf der Jagd nach Sponsoren oder Drittmitteln sind ‒ das reicht von Vereinen aller Art über Schulen bis hin zu Universitäten oder internationalen Institutionen. Bizarr dabei ist, dass nicht einmal mehr die Wahrnehmung dafür existiert, dass die Gelder, die derart fließen, in der Regel eben jene Gelder sind, die früher einmal als Steuer eingezogen wurden; der Unterschied zwischen der Steuerversion und der Spendenversion besteht allerdings darin, dass die Zahlung von Steuern eine Verpflichtung ist, also keinen Anspruch auf Dankbarkeit erheben kann, während es in der Spendenökonomie völlig normal ist, den Spendern reichlich Honig ums Maul zu schmieren, nur damit die Quelle nicht versiegt.

Das ist dann das, was immer unter dem hübschen Etikett "Zivilgesellschaft" beworben wird. Nicht Selbstorganisationen, wie es die Gewerkschaften eigentlich sind, deren finanzielle Potenz sich aus der Menge der Mitglieder ergibt, sondern Strukturen, die von Großspenden getragen werden und letztlich, wenn auch manchmal über einen Verlauf von Jahren oder Jahrzehnten, im Interesse dieser Spender handeln. Der Professor, der seine Stellung der erfolgreichen Einwerbung von Drittmitteln verdankt, wird dem Absender dieser Mittel gegenüber immer mehr Loyalität empfinden als den Steuerzahlern gegenüber, selbst wenn Letztere den größeren Teil seiner Stelle finanzieren. Er wird schon gar nicht öffentlich bekunden, dass ihm klar ist, dass es sich bei diesen Drittmitteln um nicht mehr eingeforderte Steuern handelt. Und letztlich wird er sehr geneigt sein, die ganze Richtung seiner Tätigkeit, auf welchem Feld auch immer, an dessen Interessen auszurichten.

Wie weit solche Entwicklungen den politischen Prozess verzerren, kann man an solchen Astroturfing-Kampagnen wie Fridays for Future sehen. Oder an der Tätigkeit der Bertelsmann-Stiftung, die ebenfalls über Jahre hinweg die politische Debatte in eine bestimmte Richtung drängt, um dann, irgendwann, mit dem Projekt herauszurücken, durch das sie von dieser Richtung profitieren will. Das konnte man bei dem 2008 gescheiterten Versuch sehen, die Kommunalverwaltung von Würzburg zu privatisieren und an die Bertelsmann-Tochter Arvato zu geben. Vorausgegangen waren Studien und Veranstaltungen zur Digitalisierung der Verwaltungen, selbstverständlich unter Einbeziehung der Tatsache, dass das gegenwärtige Steuersystem natürlich dafür sorgt, dass die allermeisten Kommunen das finanziell gar nicht stemmen können.

Wirklich fatal wird das, weil diese Kopplung aus fortschreitender Verarmung aller Verwaltungsebenen mit dieser Spendenökonomie gekoppelt ist und so die – unangebrachte – Dankbarkeit gegenüber den großen Spendern zum allgegenwärtigen Alltagserleben wird. Das ist letztlich auch der Kern der Tafeln, die Armen zu einer Dankbarkeit zu nötigen, zu der Leistungen, auf die man einen rechtlichen Anspruch besitzt, nicht verpflichten, was auch hier voraussetzt, die Leistungen so weit abzusenken, dass die Wohltätigkeit in Anspruch genommen werden muss.

Die Mentalität, die dadurch erzeugt wird, ist dem Kapitalismus eigentlich fremd, der Beziehungen auf Bewegungen von Geld reduziert. Es wird vielfach ein Verhalten erzeugt, das eigentlich eher feudal ist, samt Kratzfüßen und Bücklingen. Wobei die stetige Einübung der Unterwürfigkeit für die politische Lebensfähigkeit der Gesellschaft noch fataler ist als die Verherrlichung des individuellen Gewinnstrebens; in Kombination erzeugen diese beiden Faktoren aber eine Umgebung, in der weder von der Leyens SMS-Handel noch der gigantische Steuerbetrug von Cum-Ex noch ein wirklicher Skandal werden können, denn das Ergebnis von Unterwürfigkeit und Gewinnstreben ist letztlich unbegrenzte Korrumpierbarkeit; eine Korrumpierbarkeit, die sich als jederzeit abrufbare Eigenschaft in weiten Teilen der Gesellschaft verbreitet.

Wobei auf einer sehr tiefen Ebene diese Mentalität die Struktur widerspiegelt, die das große Kapital im heutigen Westen tatsächlich hat, bei dem verschiedene Formen von Renteneinnahmen längst den aus eigener Produktion erlangten Profit ersetzt haben. Das Interessante am gewöhnlichen kapitalistischen Profit ist nämlich, dass er sich, ganz ohne Einsatz materieller Gewalt, gleichsam automatisch aus dem Kreislauf von Produktion und Konsumption ergibt, sobald die Arbeitskraft zur Ware gemacht ist.

Renteneinnahmen, die eigentlich ein feudales Relikt sind, müssen mit materieller Gewalt durchgesetzt werden. Es ist kein Zufall, dass die Klasse der Grundbesitzer, die Fronleistungen und später Pachtzahlungen verlangten, gleichzeitig die Klasse der bewaffneten Gewalt war. Und während sich die Interessen des klassischen Kapitals zwar vielfach im Konflikt mit jenen der Arbeiterschaft befinden, ist auch der Mechanismus, über den sie sich politisch durchsetzen, weitgehend ohne bewusste Parteinahme funktionsfähig, weil es eben Bereiche gibt, wie etwa bei der Bereitstellung nötiger Infrastruktur, in denen die Interessen des Gesamtkapitals mit jenen der Beschäftigten nicht kollidieren.

Die Rentenwirtschaft, die für ihre aus "geistigem Eigentum" oder Markenrechten etc. erlangten Gewinne die umfassende Infrastruktur für verzichtbar hält, kann ihre Interessen nicht auf diese unsichtbare Weise durchsetzen und muss es daher in der feudalen Weise über persönliche Loyalitäten tun. Ein Zustand, der auf allen Ebenen die Korruption zum Blühen bringt, denn wie anders als durch Gefälligkeiten gegenüber Personen (oder auch gegenüber Strukturen) sollen diese Loyalitäten entstehen?

Das Ergebnis dieser Verschiebung, dieses Wiederauflebens feudaler Momente, entspricht allerdings einem Feudalismus im Endstadium, einer Gesellschaft wie im Frankreich des ausgehenden 18. Jahrhunderts, deren extremer Abstand zwischen der Welt der Mächtigen und Reichen und der der breiten Massen sich unter anderem in den Werken des Marquis de Sade abbildeten. Ein Zustand, der jenen berühmten, Marie Antoinette zugeschriebenen Satz erzeugte, das Volk möge doch Kuchen essen, wenn es kein Brot habe, und dann dazu führte, dass die Herrschenden erst metaphorisch, dann aber ganz physisch den Kopf verloren.

Wenn jetzt der Zugriff auf all jene Teile der Welt entfällt, die in den letzten Jahrzehnten folgenlos ausgeplündert werden konnten, ist die Reaktion jener Handvoll rentenbeziehender Oligarchen vorhersehbar – sie werden versuchen, noch das letzte bisschen Honig aus jenen Gebieten zu saugen, die sie noch kontrollieren, also aus den Ländern des Westens selbst; und da sie über keinerlei Begriff von materieller Produktion mehr verfügen, werden sie das ohne jede Rücksicht auf die Grundlagen gesellschaftlicher Funktionsfähigkeit tun.

Es ist nicht abwegig, so etwas wie die SMS der Frau von der Leyen bereits als Teil dieser Entwicklung zu sehen. Der letzte Schritt ist der blanke Raub; als würde all das Elend des Kolonialismus auf seine Ursprungsländer zurückfallen. Das wird nicht genügen, um die ungeheuren Ansprüche des aufgehäuften Geldes zu befriedigen, aber die entscheidende Frage ist eine andere – wenn die bisherigen Opfer des Raubes in den Ländern des Südens der Ausplünderung die Stirn bieten, wie lange werden sich die vorgesehenen Opfer in den Ländern des Westens selbst das gefallen lassen?

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