Meinung

Yalta European Strategie 2023 – Schicksalsschlacht des Westens in Kiew

Mehrere Hundert Gesandte aus dem Westen kamen auf der diesjährigen YES-Konferenz mit Vertretern des ukrainischen Regierung in Kiew zusammen. Bei der Veranstaltung war vor allem folgende Frage zentral: "Kann die Ukraine einen langjährigen Krieg mit Russland aushalten?"
Yalta European Strategie 2023 – Schicksalsschlacht des Westens in Kiew© Sergey Illin/Yalta European Strategy

Von Wladislaw Sankin

"Die Zukunft der Welt wird in der Ukraine entschieden" – unter diesem Motto fand letzte Woche in Kiew die zweitägige Konferenz des Forums "Yalta European Strategy" (YES) statt. Die Veranstaltung wird seit 2006 von der Stiftung des ukrainischen Oligarchen Wiktor Pintschuk organisiert. RT DE hat sich die Mühe gemacht, nahezu alle Videoaufzeichnungen von mehr als einem Dutzend Panels der Konferenz anzuschauen, die der Veranstalter auf Youtube wenige Tage nach dessen Ende nach und nach veröffentlichte.

Warum ist das wichtig? Die YES hat sich als jährlicher Treffpunkt der lautstarken und einflussreichen Ukraine-Lobby bei den westlichen Eliten etabliert, eine Art Mischung aus einem "ukrainischen Davos" und der "Münchner SiKo im Kleinen". Es werden Ideen entwickelt, Informationen ausgetauscht und Zukunftspläne geschmiedet. Es ist ein Blick in die Werkstatt des westlichen Denkens über die Ukraine, Russland, den Westen und die restliche Welt. Im praktischen Sinne ist es die Möglichkeit zu verstehen, was in Regierungen, Parlamenten, Redaktionen bekanntester Medien, Thinktanks und Militärstäben über den aktuellen Stand des Ukraine-Konflikts diskutiert und geplant wird.

Pintschuk ist Multimilliardär, Medienmogul und Schwiegersohn des Ex-Präsidenten Leonid Kutschma. Er sieht sich auch als Bindeglied zwischen dem westlichen Establishment und ukrainischen Wirtschaftseliten. Als Veranstalter der YES sagte er in seiner Begrüßungsrede:

"Die Ukraine befindet sich im Zentrum des Universums. Die Ukraine befindet sich seit Hunderten von Jahren im Zentrum der europäischen Geschichte. Heute befindet sie sich im Zentrum der Weltgeschichte. Dieser Krieg ist der wichtigste und bedeutendste Krieg in der Weltgeschichte."

Diese Worte wurden vom Publikum mit Begeisterung aufgenommen. Viele ranghohe und namhafte Teilnehmer, die anschließend in Dutzenden Panels der Konferenz auftraten, sahen die Situation ähnlich. Etwas Eschatologisches lag in der Luft, die Philosophie des moralisch begründeten Endkampfes zwischen Gut und Böse, Aufstieg und Untergang, Form und Chaos, Vernunft und Irrationalität usw.

So fing es gleich mit Bildern der Weltapokalypse an, die Präsident Wladimir Selenskij in seiner Begrüßungsrede an die Wand gemalt hat, sollte die Ukraine als Vorkämpferin für "Demokratie und Humanismus" diese Schicksalsschlacht nicht gewinnen:

"Die Rede handelt von der Zukunft der Moral. Sollte Russland gewinnen, würde sich die Welt in eine Welt der Sklaven verwandeln, die solche wie Putin töten werden, nur weil es ihnen gefällt."

Er hat Russlands Sieg auch mit der kommenden Klimakatastrophe verglichen. Historiker und Publizisten gaben diesem Narrativ eine weitere "zivilisatorische" Komponente. Dem US-Historiker Timothy Snyder zufolge hatte sich die altgriechische Demokratie und damit die Zivilisation der Städte nur dank des Zugangs zum fruchtbaren südukrainischen Boden im Schwarzmeergebiet entwickeln können.

Bei späteren Kriegen ging es hauptsächlich um die Kontrolle über diese Gebiete. Die polnische Kolonisation des 16. und 17. Jahrhunderts, Adolf Hitlers Angriff auf die Sowjetunion und Josef Stalins Projekt der Modernisierung seien Beispiele dafür. Heute sei die Ukraine die Haupternährerin der Weltbevölkerung. Wenn sie verliert, wird es einen weltweiten Hunger geben.

Da Russland ohne Ideen und eine Zukunftsvision in den Krieg gezogen sei, sei dieser Krieg auch der Krieg gegen die Hoffnungslosigkeit. "Russen macht es wütend, dass Ukrainer Hoffnung haben", behauptete er. Mit Hoffnung meinte er den angestrebten Beitritt zu EU und NATO. Da Russland sich nicht auf die Kraft der Ideen berufe, sondern auf das Recht der Stärkeren – sprich auf rohe Gewalt –, bedeute ein russischer Sieg den Triumph der Kräfte des Chaos und der Finsternis.

Diesen Gedanken teilte auch sein ukrainischer Kollege Jaroslaw Grizak. Eine Niederlage der Ukraine würde nicht weniger als das Ende der menschlichen Zivilisation bedeuten. Ihm zufolge ging es in den früheren Weltkriegen um die "Verbesserung der Welt" (um welche genau, sagte er allerdings nicht). Beim Ukraine-Krieg handelt es sich ums blanke Überleben der Menschheit.

Dabei sei Russland ein zentrales Problem. Es sei nicht imstande, ein "normales europäisches Land" zu werden. Da auf Reformen, die immer scheitern, stets eine Erstarken der Tyrannei folge, gebe es das sogenannte "russische Pendel", das unvermeidbar in Aggressionen gegen seine Nachbarländer gipfele. Dieses Pendel müsse gestoppt werden, forderte Grizak.

Weitere ukrainische Teilnehmer des Forums aus Politik und Medien vertraten mehrheitlich die Idee, dass Russland nicht verbesserungsfähig sei, egal ob Wladimir Putin im Kreml an der Macht sei oder ein "besserer Mensch" wie etwa Alexei Nawalny. "Wir in der Ukraine pflegen oft zu sagen, nur ein toter Russe sei ein guter Russe", erklärte eine ukrainische Politikerin. Bei einem der Panels saßen vier ukrainische Militärs auf dem Podium, die direkt von der Front gekommen waren. Da war der Tod (der heldenhaften Ukrainer und der "bösen Russen") ein zentrales Thema.

Unter ihnen war der Anwalt und Kämpfer Masi Nayyem, der im Krieg sein rechtes Auge verloren hatte. Die unverdeckte klaffende Narbe an dieser Stelle ließ ihn "mitreden", denn sie gab ihm die Glaubwürdigkeit eines Leidtragenden. Nayyem beschrieb, was sein sehnlichster Traum ist.

"Ich kann nicht sagen, dass ich diesen Krieg im Namen neuer Werte führe. Ich will rächen. Ich will auf so grausame Weise rächen, wie es im Hinblick auf internationale Konventionen nur möglich ist. Je mehr Russen sterben, desto besser ist es für mich als Teilnehmer an den Kampfhandlungen. Ich habe das Recht, Russen zu töten, und das ist mein größter Wunsch."

"Wofür die Helden kämpfen und ihr Leben geben" – so hieß das entsprechende Panel. Die Monologe der handverlesenen Kriegsteilnehmer waren zweifellos der emotionale Höhepunkt der ganzen zweitägigen Konferenz. Die westlichen Zuschauer zollten den hart erprobten Kämpfern Respekt und Bewunderung – schließlich opferten sie sich für deren Interessen, was sie bei Gelegenheit auch unverblümt zugaben.

Aber ein bisschen Kultur und Unterhaltung gab es auch. Ein ukrainischer Sänger und ein Schriftsteller sollten dem Publikum erklären, was die ukrainische Idee "so stark" macht. Das Panel hatte auch einen bedeutungsschweren Namen. Die Ursache dafür war allerdings ganz einfach auszumachen.

"Ukrainer sind klüger und besser als Russen", sagte ein ukrainischer Rocksänger mit Wohnsitz in New York in akzentfreiem Englisch. Der mit westlichen Preisen und Auszeichnungen überhäufte Schriftsteller und bekennende Nationalist Sergei Schadan verglich die Ukraine mit einer jungen und coolen Punkband und Russland mit einer alternden Kabarettsängerin, der gar nicht bewusst sei, dass ihre Zeit vorbei ist. Am Ende sangen die beiden leidenschaftliche Lieder über "Peremoga", den ukrainischen Sieg.

Das respektable Publikum war belustigt. Ein wunderbares Volk sind diese Ukrainer! Es zieht nicht nur heldenhaft und ohne Todesangst in den Krieg gegen die Russen, sondern auch singend. Aber kommt doch irgendwann der so oft beschworene ukrainische Sieg? Gibt es Probleme auf dem Weg in die glorreiche Zukunft eines transparenten, erfolgreichen, digitalisierten, klimafreundlichen Landes, eines obligatorischen NATO- und EU-Mitglieds, das Investitionen anzieht, die Welt ernährt und fortschrittlichste Technologien entwickelt – wie Ministerpräsident Denis Schmygal in seiner Rede geschwärmt hat? 

Ja, diese Probleme gibt es, und jedem von ihnen wurde mindestens ein Panel gewidmet. Die Veranstalter haben beispielsweise richtig erkannt, dass die Mehrheit der Weltbevölkerung gar nicht auf der Seite der Ukraine steht. Oder dass die Wähler im Westen die Unterstützer der Ukraine in ihren Regierungen abwählen könnten. Und schließlich, dass die Russen einen militärischen Sieg der Ukraine einfach nicht zulassen können.

Diese Schwierigkeiten scheinen jedoch noch überwindbar zu sein. Die Dritte Welt könne man durch Anpassung der Narrative noch überzeugen. Schließlich seien die einfachen Menschen auf der Seite der Ukraine, wie Selenskij und eine britische Teilnehmerin unterstellten. Für Afrika wäre es beispielsweise sinnvoll zu erklären, dass der russische Krieg gegen die Ukraine der letzte "westliche", imperialistisch-koloniale Krieg sei. Russland sei ein ewiggestriger Imperialist, wohingegen der Westen seine koloniale Vergangenheit überwunden habe.

Probleme mit "Ukraine-Müdigkeit" im Westen könne man mit Verstärkung der "Berichterstattung" über die "grausame" russische Kriegsverbrechen beheben. "Dann wissen die Leute, wer gut und wer böse ist, und sie haben natürlich Lust, die gute Seite zu unterstützen", sagte ein US-Abgeordneter. Sein französischer Kollege fügte hinzu, dass den Menschen in seinem Land durchaus bewusst sei, dass die Unterstützung der Ukraine einfach "im unseren ureigenem wirtschaftlichen Interesse" liegt.

Und gegen das zu langsame Vorrücken der ukrainischen Armee könne neben Heldenmut und Erfindungsgeist der ukrainischen Soldaten nur noch eine Intensivierung der Waffenlieferungen helfen. "Waffen, Waffen, Waffen", schallte an diesen Tagen so oft durch den Saal (RT DE berichtete).

Fazit

Die YES 2023 war eine Propagandaveranstaltung erster Güte, mit bei diesem Thema üblichen Fantasmen. Sie zeigte: Der Westen stellt sich auf einen langjährigen Krieg gegen den "Menschheitsfeind" Russland ein. Eine ukrainische (und damit auch die eigene) Niederlage oder ein brüchiger Frieden kommen nicht in Frage.

Und dieser Krieg wird nach wie vor – wie auch ursprünglich geplant – von seinem treuen Söldnerstaat Ukraine ausgefochten. Dessen Zustand macht allerdings Sorgen. Es wurde deshalb genauestens geprüft, ob der Pegel des Hasses gegen den Feind und der Ehrgeiz bei den verbliebenen Kämpfern immer noch hoch sind. Das Resultat: zufriedenstellend.

Wut, Trauer und Rachegelüste sollen nun mehr denn je den Endkampf der Soldaten anleiten. Die Victor Pinchuk Foundation hat den Nerv der Zeit getroffen und postete die Racheschwüre des einäugigen Kämpfers Nayyem als Quintessenz der mehrstündigen Veranstaltung im Internet. Das ins Englische übersetzte Kurzvideo verbreitet sich wie ein Lauffeuer, das blutige Gemetzel mit fremden Händen kann weitergehen.

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