Meinung

Die Grundrechtsverwirkung ist kein Buttermesser – Zur Debatte um Björn Höcke

Selbst die Tagesschau macht derzeit Werbung für eine Petition auf dem Soros-Portal "Campact", Björn Höcke die Grundrechte abzuerkennen. Und es wird in den Medien eifrig darüber debattiert. Ein weiterer Schritt Richtung Abgrund.
Die Grundrechtsverwirkung ist kein Buttermesser – Zur Debatte um Björn HöckeQuelle: www.globallookpress.com

Von Dagmar Henn

Grundrechtsverwirkung ist also der nächste Punkt auf der Liste. Zumindest ist dieses Stichwort in den Medien in den letzten Tagen geradezu explodiert, und überall wird so getan, als wolle man ernsthaft darüber diskutieren.

Leider verhalten sich auch an sich respektable Teilnehmer dieser Debatte, wie der Jurist Heribert Prantl, so, als wäre das eine Debatte, um die herum nichts geschehen wäre, und als ginge es nur um den finsteren Herrn Björn Höcke, der ja ansonsten womöglich noch Ministerpräsident werden könne.

Also nur als Erinnerung für all jene, die es vergessen haben oder es nicht wissen: Es gab über viele Jahrzehnte hinweg in der Bundesrepublik unzählige Nazis in Amt und Würden. Und zwar nicht solche, denen man auf Grundlage interpretierter Aussagen zuschreibt, welche zu sein, sondern ganz reale, mit NSDAP-Mitgliedsnummer und einschlägiger Tätigkeit, vom Verfassen der Nürnberger Rassengesetze über Todesurteile wenige Tage vor Kriegsende bis hin zur Beteiligung an Kriegsverbrechen, als Landes-, Bundesminister bis zum Bundeskanzler.

Wenn Höcke, an dessen Händen kein Blut klebt wie beispielsweise an den Händen des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Hans Filbinger, der von 1966 bis 1978 regierte, eine derart große Bedrohung für die Demokratie darstellt, dann kann die Bundesrepublik bis 1981, also bis zum Rücktritt des letzten als Nazi-Jurist tätigen Ministers, keine gewesen sein.

Tatsächlich müsste man, würde man diese Vorstellung wirklich ernst nehmen, die gesamte rechtliche Verfasstheit dieser Republik auf den Prüfstand stellen, an der viele solcher Nazijuristen entscheidend mitgewirkt haben. Ja, eigentlich hätte unter diesem Gesichtspunkt die BRD 1990 das DDR-Rechtssystem übernehmen müssen, um die Gefahr endgültig zu bannen, die dieses Erbe für die Demokratie darstellt.

So ist das natürlich nicht gemeint. All diese Hinterlassenschaften werden nur selten überhaupt angerührt, und wenn, dann dauert es Jahre, wenn nicht Jahrzehnte, wie etwa beim Kriterium "Heimtücke" bei der Definition eines Mordes. Oder bei der Einordnung der Beförderungserschleichung als Straftat, noch so ein Nazi-Relikt. Jene, die sich gründlicher mit dieser Frage befasst haben, können diese Liste sicher mühelos auf mehrere Seiten verlängern; in der BRD gab es nämlich nie eine pauschale Aufhebung des gesamten Nazi-Rechts.

Aber zurück zu der Debatte um Höckes Grundrechte. Es ist wirklich unübersehbar, dass diese Welle von Artikeln, bis hin zur Tagesschau, Teil einer Kampagne ist. Aber man irrt sich, wenn man glaubt, es ginge dabei tatsächlich um Höckes Grundrechte. Es geht noch nicht einmal um das Thema Grundrechtsverwirkung. Es geht darum, sich an den Gedanken zu gewöhnen. In den Köpfen der Leser zu verankern, dass der Entzug von Grundrechten eine gute Idee sei, eine, die die Demokratie schützt, eine, die zur Rettung des Staatswesens geradezu unverzichtbar sei.

Dafür besteht eine gewisse technische Notwendigkeit. Wollte man eine voll entwickelte faschistische Herrschaft in Deutschland erreichen (und die Gefahr dafür geht eher nicht von Herrn Höcke aus), müssen die Deutschen erst einmal in Bürgerkriegslaune versetzt werden. Die Originalnazis hatten das Problem nicht; die Weimarer Republik war das Produkt eines Bürgerkriegs, der sich im Grunde von etwa 1924 bis 1933 im Zustand eines eingefrorenen Konflikts befand. Große Teile der Nazi-Hierarchie rekrutierten sich aus den weißen Truppen in diesem Bürgerkrieg, den Freikorps.

Soweit nach wie vor Reste dieses Bürgerkriegs vorhanden sind, findet man sie im Umgang mit der DDR, der vermutlich anders gewesen wäre, hätten nicht große Teile der westdeutschen politischen Eliten immer noch Rachegelüste gegenüber dem alten Feind verspürt, der ja gemeinerweise 1945 gesiegt hatte.

Diese Rolle haben zu großen Teilen dann die Grünen übernommen, was ihre Affinität zu anderen Resttruppen aus diesem alten Bürgerkrieg und insbesondere den alten Verbündeten im Baltikum und der Ukraine erklärt. Das ist vielleicht auch der Grund, warum sie die Entwicklung in Russland nicht verstehen – weil ihnen unvorstellbar scheint, dass der historische Abstand so etwas wie eine Versöhnung zwischen diesen alten Gegnern hervorbringen könnte. Noch eine der 1990 verlorenen Chancen …

Die Aberkennung der Grundrechte, so die Argumentation in der Debatte, sei dafür da, die Demokratie vor ihren gefährlichsten Feinden zu schützen; das sei eine Konsequenz aus dem Untergang der Weimarer Republik. Wieder einmal eine Billigversion der Geschichte, denn Hitler gelangte eben nicht durch Wahlen an die Macht, sondern über eine Koalition, insbesondere mit dem Segen der Industrie (die US-Geldgeber lassen wir einmal außen vor). Und der Erfolg der NSDAP bei den Wahlen im März 1933 beruhte vor allem darauf, dass sie rechtzeitig davor den Reichstag anzündeten und ihre wichtigsten Gegner verhafteten. Die Listen dafür wurden übrigens von der Polizei auf reichsweite Anweisung zum Stichtag 27. Februar 1933 fertiggestellt und dann nur noch abgearbeitet (Listen, die heute übrigens Truppen wie "Correctiv" schon fertig in den Schubladen haben).

Wenn man also tatsächlich eine wirksame Konsequenz aus der Machtübergabe 1933 ziehen wollte, bestünde sie darin, die politische Macht der großen Industrie und Finanz zu beschneiden. Davon kann selbstverständlich überhaupt keine Rede sein; man muss nur den Korruptionssumpf rund um Corona betrachten, oder Cum-Ex oder – auch diese Liste ist lang. Hätten die IG Farben und die großen Konzerne der Schwerindustrie nicht einen derart großen politischen Einfluss gehabt, hätte sich ihre Hinwendung zu Hitler nach seiner berüchtigten Rede im Düsseldorfer Club der Industrie nicht in eine Ernennung zum Reichskanzler umgesetzt.

Wären Hitler damals die Grundrechte aberkannt worden, hätte das Resultat vermutlich Reinhard Heydrich gelautet; und die meisten Historiker, die sich mit dieser Zeit befasst haben, würden zustimmen, dass ein Reichskanzler Heydrich noch deutlich schlimmer gewesen wäre.

Die Aberkennung der Grundrechte ist also eine nur vermeintliche Abwehrmöglichkeit, die vor allem deshalb existiert, um vom Nachdenken über die wirklichen Gründe und Akteure dieser Machtübertragung abzulenken – so wie man sich in der Bundesrepublik die ganze Zeit über die Neonazis hielt, damit die wirklich mächtigen Nazis nicht in den Blick gerieten. Und auch wenn große Teile dieser Bundesregierung schon intellektuell nicht fähig sind, das zu durchschauen, muss man dennoch davon ausgehen, dass unter jenen, die die gegenwärtige Kampagne geplant haben, die im November gestartet wurde, auf jeden Fall solche sind, die es verstehen, und die daher mit dieser Idee einen ganz anderen Zweck verfolgen. Oder Zwecke.

Der erste Zweck: Man braucht Höcke als Gottseibeiuns. Schließlich häuft man politische Handlungen an, die vielfach an die originalen Nazis erinnern, vom Russlandfeldzug über Gleichschaltung, Parteigeheimdienste und Aufmärsche bis zum Verständnis für Genozid, sodass eine Gestalt zur Ablenkung dringend geboten ist. Die ganze Debatte hilft, ihn wieder in Erinnerung zu bringen, damit man wiederholt auf das eigentlich Böse verweisen kann.

Viel wichtiger ist allerdings der andere Zweck. So etwas wie eine Aberkennung von Grundrechten (die bisher kein einziges Mal stattfand) soll als normale Vorstellung etabliert werden. Man kann ja mal darüber reden, ist auch nicht schlimm, denn es geht nur um Höcke, den Nazi. Leider verfängt das sogar bei Heribert Prantl, der eigentlich sonst sehr aufmerksam ist, wenn es um Angriffe auf Grundrechte geht, einer der wenigen, die da noch verblieben waren.

Das könnte man für einen Propagandaschachzug halten, wenn da nicht einige Entwicklungen wären, in deren Zusammenhang eine derartige Debatte beziehungsweise ihr Ziel passt. Die Änderung im Passgesetz beispielsweise, die es ermöglicht, einen Pass zu verweigern. Die Änderungen im Verfassungsschutzgesetz, die auf eine universelle Möglichkeit zur Denunziation hinauslaufen, beim Vermieter, beim Arbeitgeber, bei wem auch immer. Die geplanten Änderungen beim Bundespolizeigesetz, die zusammen mit dem Passgesetz die Möglichkeit schaffen, an der Emigration zu hindern. Die Tatsache, dass inzwischen die Kündigung von Bankkonten eine etablierte Maßnahme politischer Disziplinierung ist. Die unzähligen Strafverfahren wegen simplen Meinungsäußerungen. Auch das ist keine Liste mit Anspruch auf Abgeschlossenheit. Aber sie genügt, um aufzuzeigen, dass es nur ein Baustein unter vielen ist, jetzt auch die Grundrechte disponibel zu machen.

Und mehr noch – ein derartiges Verfahren kann nur beim Bundesverfassungsgericht stattfinden. Jetzt wird in der Debatte lautstark beklagt, das dauere so lange, da würde das ja kaum Sinn ergeben. Ganz zufällig hat in den letzten Tagen ein gewisser Jens Spahn, seines Zeichens bekannt korruptionsfreies, ehemaliges Mitglied der letzten Regierung Merkel, vorgeschlagen, wenn man Bezieher von Bürgergeld nicht vollständig sanktionieren könne, weil das Bundesverfassungsgericht das für verfassungswidrig erklärt hat, dann könne man ja die Verfassung ändern.

Das mag eine zufällige Koinzidenz sein. Aber würde man wirklich darauf wetten wollen, dass die gegenwärtige Zusammensetzung des Bundestages nicht dazu bereit wäre, das Grundgesetz dergestalt zu ändern, dass eine Aberkennung von Grundrechten eben nicht mehr ein langjähriges Verfahren vor dem Verfassungsgericht benötigt, sondern durch Entscheid eines einfachen Gerichts stattfinden kann, weil man nur so die gewaltige Gefahr bannen könne, die vom "Nazi" Höcke ausgeht, angesichts dessen die deutsche Demokratie schwinden müsse wie Aschenputtels Ballkleid um Schlag Mitternacht? Und würde man des Weiteren darauf wetten wollen, dass die Anwendung dieser Änderung dann tatsächlich auf Björn Höcke begrenzt bleibt und nicht auf alle ausgeweitet wird, denen man beispielsweise "Rechtfertigung des russischen Angriffskrieges" oder "Antisemitismus" oder "Klimaleugnung" vorwerfen kann?

Es gibt Menschen, die eine Maschinenpistole in Händen halten und trotzdem kein Gefühl der Bedrohung auslösen, und andere, die greifen nach einem Buttermesser, und man zuckt zusammen. Die deutsche politische Elite – und damit ist explizit nicht nur die aktuelle Bundesregierung gemeint – gehört zur letzteren Kategorie. Sie hat sich in den vergangenen Jahren ein gewaltiges Arsenal zugelegt. Und das, wonach sie greift, erinnert immer weniger an ein Buttermesser und immer mehr an eine Maschinenpistole.

Wenn etwas die deutsche Demokratie bedroht, oder deren vorhandene Reste, dann ist es nicht das politische Handeln eines Höcke, sondern das dieser Elite, und festzustellen – das ist besonders traurig – die zunehmende Neigung einst aufmerksamer Beobachter, die vorgelegten Erzählungen für bare Münze zu nehmen. Wenn die Prantls dieser Republik sich blenden lassen, dann ist wirklich Hopfen und Malz verloren. Wo die wirklich Verdächtigen stehen, die Nachfolger des damaligen Clubs der Industriellen, kann man ja derzeit in Davos beobachten.

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