Meinung

Washington schreibt die Geschichte um - Warum Israel Historiker brandmarkt

Israels Außenministerium hat die Ernennung des weißrussischen Historikers Wadim Gigin zum Leiter der Nationalbibliothek in Minsk verurteilt. Gigin sei "Antisemit" und leugne den Holocaust. Lew Werschinin, ebenfalls Historiker und Bürger Israels, rieb sich verwundert die Augen: Ist es Antisemitismus, wenn man sich an mehr als nur den Holocaust erinnert?
Washington schreibt die Geschichte um - Warum Israel Historiker brandmarktQuelle: Sputnik © Wiktor Tolotschko

Von Lew Werschinin

In der vergangenen Woche brach plötzlich aus heiterem Himmel ein Konflikt zwischen zwei Staaten aus, die eigentlich durch das historische Gedächtnis verbunden sein sollten. Zwei Staaten, deren Völker unter der nationalsozialistischen Politik der gezielten Ausrottung "minderwertiger Rassen" während der Aggression Hitlerdeutschlands schwer zu leiden hatten. Die Rede ist von Weißrussland und Israel.

Hier eine kurze Zusammenfassung: Der Sprecher des israelischen Außenministeriums Lior Haiat hat die Ernennung des Minsker Historikers Wadim Gigin zum Generaldirektor der weißrussischen Nationalbibliothek in scharfen Worten kritisiert. Er bezog sich dabei auf die Erwähnung von Gigin in dem vom israelischen Diasporaministerium erstellten Antisemitismus-Bericht im Jahr 2021. Wörtlich schrieb Hayat:

"Angesichts seiner antisemitischen Äußerungen und der Leugnung des Holocaust bei verschiedenen Gelegenheiten in der Vergangenheit wird Wadim Gigin im Antisemitismus-Bericht 2021 des Diasporaministeriums als jemand bezeichnet, der zur Ausgrenzung der jüdischen Erinnerung beigetragen hat, die ein integraler Bestandteil der Erinnerung an den Holocaust ist. Es gibt keine Rechtfertigung für die Ernennung einer solchen Person auf den Posten des Direktors der Nationalbibliothek von Belarus."

Ich will es nicht verhehlen, ich bin schockiert. Seit drei Jahren verfolge ich mit Vergnügen die Reden und Vorträge von Wadim Gigin, einem brillanten Historiker und hochkarätigen Aufklärer – und ich habe keinen "Antisemitismus" feststellen können. Im Gegenteil, seine Aussagen zu diesem Thema sind sachlich und voller Empathie. Zum Beispiel:

"Sie (die Juden – L.W.) waren in Partisanenkommandos organisiert, ein antifaschistischer Untergrund war in den Ghettos aktiv. Und jetzt verlassen wir dieses Thema nicht, wir sprechen direkt über die Verbrechen des Nationalsozialismus. Dazu gehört auch der Völkermord am jüdischen Volk. Wir sprechen über die Täter unter den Nazis und ihre Helfershelfer. Und im Rahmen des Strafverfahrens über den Völkermord am weißrussischen Volk verurteilen wir auch den Holocaust."

Niemals habe ich von ihm etwas Gegenteiliges dazu gehört. Was ist also das Problem?

Nein, natürlich verstehe ich, dass "Antisemitismus" ein flexibles Werkzeug in Händen derer ist, die den Kampf gegen ihn zu ihrem Beruf gemacht haben. Wenn man will, kann man die Tatsache heranziehen, dass Gigin einmal gesagt hat, dass der derzeitige Präsident der Ukraine, der die Initiatoren des Lemberger Pogroms und die Täter von Babi Jar verherrlicht, "sich an westliche Gönner verkauft und die Erinnerung an seine Vorfahren verraten hat." Wenn man will, kann man auch den Satz "einige von denen, die im Jahr 2020 Weißrussland schadeten, sind nach Israel geflohen, wo sie Eigentum und Verwandte haben, und haben diejenigen, die ihnen glaubten, allein büßen lassen" als Antisemitismus auslegen. Aber …

Aber es ist doch alles wahr: Selenskij hat das Andenken der Vorfahren verraten, einige weißrussische Oppositionelle sind geflüchtet und ließen ihre Anhänger im Stich – was für ein "Antisemitismus" liegt denn darin, die Dinge beim Namen zu nennen?

Schließlich ist "Antisemitismus" (oder eher "Judophobie", denn auch Araber sind Semiten) die Ablehnung der Juden aus rassischen, religiösen und nationalen Gründen, Verachtung ihnen gegenüber, die Propaganda von Hass gegen sie bis zum Aufruf zu ihrer Vernichtung als Gemeinschaft – aber eben als Gemeinschaft, und nur, weil sie Juden sind.

Immerhin sind Juden Menschen wie alle anderen, und wie bei allen gibt es höchst unterschiedliche unter ihnen. Es gibt Helden, es gibt gewöhnliche Menschen, es gibt aber auch Abschaum, was schon Wladimir Zeev Jabotinsky, ein Ideologe des Zionismus, nüchtern konstatierte, und der Abschaum hat keine Nationalität. Wenn ein Mistkerl jüdischer Abstammung als Mistkerl bezeichnet wird, dann gewöhnlich nicht, weil er ein Jude ist, sondern weil er ein Mistkerl ist. 

Wenn überhaupt, dann sind Antisemiten (Judophobe) diejenigen, die den Juden das Recht absprechen, Menschen wie alle anderen zu sein – egal, ob sie ihnen unmenschlich schlechte Eigenschaften zuschreiben und sie in eine "schlechte Rasse" einordnen, oder ob sie ihnen übermenschlich positive Eigenschaften zuschreiben, die sie über jede Kritik erhaben machen.

Das alles ist einfach nur logisch. Und das Wichtigste: Was hat "Holocaust-Leugnung" mit all dem zu tun? Für mich als Sohn einer jüdischen Mutter und als Bürger Israels ist es sehr wichtig, dies zu verstehen. Ich versuche aufrichtig, mir einen Reim darauf zu machen, ich durchforste das Internet, sammle mühsam Zitate, und schließlich kommt mir die Erleuchtung. Hier ein weiteres Zitat von Gigin:

"Der Westen versucht, die Leistung der Befreier und die gesamte Geschichte des Zweiten Weltkriegs zu verwischen ... das gilt sogar für ein so schmerzhaftes Thema wie den Holocaust."

Es ist diese Formulierung, die als inakzeptabel bewertet wird. Es stellt sich heraus, dass der Historiker Gigin sich schuldig gemacht hat, gegen den Strom zu schwimmen und sich zu weigern, die Schuld an der Tragödie des europäischen Judentums allein auf Hitlers Nazis zu schieben, und damit die aktive Beteiligung "lokaler Hitlers" am Massenmord an Juden – der weißrussischen, litauischen, lettischen, ukrainischen Kollaborateure – zu verschweigen, die jetzt mit dem Segen der USA und der EU zu "nationalen Helden" erklärt werden.

Ich bin vorsichtig. Solche Mutmaßungen müssen geprüft werden. Also lese ich den Antisemitismus-Jahresbericht 2021, auf den sich Haiat bezieht. Hier ist das, was darin steht, wortwörtlich:

"ANTISEMITISMUS | 2021 | JAHRESBERICHT ... Weißrussland: Verstärkung des antisemitischen Diskurses inmitten der politischen Krise. Das jüdische Gedenken wird sowohl aus dem internen Diskurs als auch aus den staatlichen Gedenkfeiern ausgeschlossen und entfernt. Hochrangige Regimevertreter und andere Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens (wie Andrei Kriwoschejew, Vorsitzender des belarussischen Journalistenverbandes, und Wadim Gigin, Vorstandsvorsitzender der Belarussischen Wissens-Gesellschaft) schweigen bewusst über das einzigartige Schicksal jüdischer Opfer in Belarus, das ein Drittel seiner Bevölkerung durch die Nazi-Besatzung verloren hat. Selbst das neue Gesetz über den 'Völkermord in Belarus', das vom Regime vorgelegt wurde, enthält keinerlei Hinweis auf die nationalsozialistische 'Endlösung der Judenfrage' in Belarus, obwohl die jüdischen Opfer ein Drittel aller zivilen Opfer auf belarussischem Boden ausmachten."

Na bitte! Ein Drittel der weißrussischen Bevölkerung (33 Prozent) wurde während des Krieges von den Nationalsozialisten und ihrem Anhang vernichtet, ein Drittel der insgesamt Vernichteten (folglich 11 Prozent der Gesamtbevölkerung) waren Juden. Der "Rest" der Opfer waren verständlicherweise Weißrussen. Was ist denn dann der Vorwurf? Denn genau das ist es, was weißrussische Historiker, einschließlich Gigin, sagen: dass ethnische Juden, wie auch ethnische Weißrussen und Roma, die in Weißrussland lebten, ein organischer und gleichberechtigter Teil des multinationalen Volkes waren. Und der Holocaust war auf dem Gebiet der BSSR eben Teil des Völkermordes am weißrussischen Volk (im weiteren Sinne: an dem sowjetischen Volk).  

Dies ist eine Tatsache, so komplex und verzahnt ist Geschichte nun mal. Sie wird in Minsk korrekt beschrieben und diese Beschreibung beleidigt niemanden. Warum die offiziellen israelischen Strukturen das als "Antisemitismus" brandmarken, kann ich persönlich nicht verstehen. Nach Meinung einiger israelischer Politiker gilt der Begriff "Holocaust" nur für die Juden – unter diesem Gesichtspunkt ist die Behauptung von Gigin, die Hitleristen hätten mithilfe ihrer baltisch-ukrainischen Diener das weißrussische Volk, einschließlich der Juden, vernichtet, ein ungeheuerliches Sakrileg. Aber auch dann handelt es sich immer noch nicht um eine Leugnung des Holocaust.

Erklärbar ist das alles nur dadurch, dass Israels Partner in Übersee befohlen haben, Weißrussland anzubellen. Aus dem einfachen Grund, dass das offizielle Minsk denjenigen in Washington missfällt, die heute die Augen vor der Rehabilitierung und Verherrlichung der Nazis in Riga, Tallinn, Vilnius und vor allem in Kiew verschließen. Ganz nach dem Motto: "Das sind zwar Hurensöhne, aber unsere Hurensöhne". Es spielt keine Rolle, dass sie viele Thesen Hitlers teilen, es spielt keine Rolle, dass sie Juden ermordet haben, wichtig ist, dass ihre ideologischen Nachfahren sich heute gegen Russland richten.

Ein Resümee ist nicht nötig. Eine Frage quält mich weiter: Wenn es morgen jemand in den USA aus irgendwelchen Gründen für zweckmäßig halten wird, die Verbrechen der deutschen Sonderkommandos und KZ-Schergen zu "vergessen", so wie die Verbrechen ihrer baltisch-banderitischen Verbündeten bereits "vergessen" wurden, und der hartnäckige Historiker Gigin stur weiter daran erinnert – wie wird man ihn in Jerusalem dann auf amerikanische Weisung nennen?

Lew Werschinin ist ein ukrainischer Fiction- und Fantasy-Schriftsteller, Publizist, promovierter Geschichtswissenschaftler und politischer Analytiker. Er wurde 1957 in Odessa geboren und ist jüdischer Abstammung. Nach einer kurzen politischen Karriere in der unabhängigen Ukraine sah er sein Leben von kriminellen Strukturen bedroht und ging im Jahr 2000 ins Exil nach Israel. Seit 2007 lebt er in Spanien. Seit dem Sieg des Euromaidan im Jahr 2014 hat Werschinin sich zu einem der schärfsten Kritiker des aktuellen Kiewer Regimes entwickelt. Seine nahezu täglichen Publikationen können im LiveJournal (wo er seit vielen Jahren unter dem Pseudonym Putnik1 schreibt) und auf Telegram verfolgt werden.

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