Meinung

Einfalt statt Vielfalt - ARD-Talk bewegt sich in der eigenen medial konstruierten Welt

Bei Anne Will passierte am Sonntag das, was im deutschen Fernsehen inzwischen regelmäßig passiert: Es diskutierten fünf Experten mit der gleichen Meinung. Politische Sendungen in Deutschland wirken zunehmend einfältig. Deutsche Medien haben sich im eigenen Narrativ verloren.
Einfalt statt Vielfalt - ARD-Talk bewegt sich in der eigenen medial konstruierten Welt

Von Gert Ewen Ungar

Man muss sich die Situation andersherum vorstellen, um die Brisanz und Arroganz zu erkennen: In einer russischen Talkshow sitzen mehrere Experten zusammen und überlegen gemeinsam, wie die Proteste in Frankreich dazu genutzt werden könnten, politische Änderungen und einen Neustart zu erreichen, mit dem Ziel, den russischen Einfluss in Frankreich zu stärken. Es gäbe einen Aufschrei, und nicht zu Unrecht. Nichts anderes setzte die ARD in der Sendung Anne Will ihren Zuschauern vor. Nur ging es natürlich nicht um Frankreich, sondern um Russland, und nach Gewinn an Einfluss sehnt sich Deutschland. Der Aufschrei bleibt erwartungsgemäß aus.

"Machtkampf in Russland – Chance für die Ukraine?" war der Titel, und wie das im deutschen Fernsehen inzwischen der Regelfall ist, saßen dort mehrere Gäste, die weitgehend die gleiche Meinung hatten. Bei den Gästen handelte es sich um Ralf Stegner (SPD), Norbert Röttgen (CDU), Claudia Major vom steuerfinanzierten Thinktank Stiftung Wissenschaft und Politik, Irina Scherbakowa von der in Russland verbotenen Organisation Memorial und Michael Thumann, Moskau-Korrespondent der Wochenzeitung Die Zeit.

Dabei zeigte sich ein grundlegendes Problem der veröffentlichten Diskussion in Deutschland: Man glaubt unkritsch an das eigene Narrativ. Im Hinblick auf Russland lautet das: Russland wird von einem Diktator regiert, der alles in seinem Land streng kontrolliert und überwacht. Dieser Diktator hat den Krieg in der Ukraine unprovoziert begonnen, die Ukraine braucht daher westlichen Schutz und Unterstützung. Darin sind sich die Teilnehmer einig.

Die Geschichte vom Riss im russischen Machtgefüge, die die Talkshow-Gäste alle sehen wollen, lässt sich nur dann formulieren, wenn man wie Röttgen annimmt, Wladimir Putin sei ein Despot, ein tyrannischer Diktator, dem es wichtig ist, "alles zu wissen, alles zu kontrollieren". Das ist aber sehr weit neben der russischen Lebensrealität. Es gibt in der russischen Gesellschaft große Freiräume, die erst dann in den Fokus des Politischen rücken, wenn sie die Souveränität des Staates in Frage stellen. Das war bei den Privatwaffen der Fall, weshalb sie dem Verteidigungsministerium unterstellt werden sollten. Das war der Auslöser für den "Putschversuch". Das Axiom ist schon falsch, alles, was darauf aufbaut, naturgemäß ebenso.

In Russland reagiert man gerade im Vergleich mit Deutschland relativ spät mit Einschränkungen. Das gilt für den "Fall Prigoschin" genauso wie für vom Westen finanzierte NGOs mit dem klaren Auftrag, sich in die inneren Angelegenheiten Russlands einzumischen. Man hat beide sehr lange gewähren lassen. Ebenso den vom Westen finanzierten Einflussagenten Alexei Nawalny. In Deutschland ist man da deutlich weniger zimperlich.

Die Runde ist sich darin einig, dass das "System Putin" durch das, was die Talkshow-Gäste für einen Putschversuch Prigoschins halten, erschüttert ist. Es sei daher nur eine Frage der Zeit ist, bis das System Putin fällt. Das erzählt man den Deutschen mindestens seit 2007, als Putin eine Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz gehalten hat, in der er dem Westen vorwirft, die internationale Ordnung für seine Zwecke zu missbrauchen. Damit war es mit der vorgetäuschten Freundschaft des Westens zu Russland vorbei.

Auch dieses Mal ist das Ende des "Systems Putin" mehr als unwahrscheinlich, denn durch den "Putschversuch" Prigoschins wurde Putin gestärkt und nicht geschwächt. Putin hat eine schwere Regierungskrise innerhalb von 24 Stunden gelöst und bewies damit umfassende Handlungsfähigkeit. Die Runde weigert sich, das zur Kenntnis zu nehmen. Dass es Prigoschin bei dem Marsch auf Moskau gar nicht um den Sturz Putins ging, ist den Talkshow-Teilnehmern ohnehin völlig schnuppe. Fakten stören nur die eigene Propaganda.

Allen in der Runde ist wichtig, dass die Ukraine zu substanziellen militärischen Erfolgen befähigt wird, damit die Ausgangsposition für spätere Verhandlungen möglichst günstig ist. Major bringt in diesem Zusammenhang die Lieferung von Kampfjets ins Spiel. Damit wird auch klar, was ein Ziel der Sendung ist: Die Meinung in der Bevölkerung, die sich mehrheitlich gegen die Lieferung von Kampfjets ausspricht, soll gedreht werden. 

Major ist Leiterin der Forschungsgruppe "Sicherheitspolitik" bei der Stiftung Wissenschaft und Politik. Die Stiftung war von Klaus Ritter im Jahr 1962 gegründet worden. Ritter war während der NS-Diktatur Leiter des Spionagedienstes Fremde Heere Ost gewesen. Seit 1965 wird die Stiftung aus Steuermitteln finanziert. Die Position von Major passt zur Geschichte ihres Arbeitgebers. Sie will der Ukraine zu einem Sieg verhelfen, Russland muss verlieren – der alte deutsche Traum wird in einem Talkshow-Sessel neu formuliert.  

Russland lehne Verhandlungen ab, behauptet Major dreist. Sie weiß, dass das nicht wahr ist, Russland lehnt Verhandlungen nicht grundsätzlich ab. Russland lehnt Verhandlungen zu den Bedingungen der Ukraine ab, die einer bedingungslosen Kapitulation Russlands gleichkämen. Majors Lösungsvorschlag ist: Nachdem der Konflikt durch den Wunsch der Ukraine ausgelöst wurde, der NATO beizutreten, sollten wir die Ukraine in die NATO aufnehmen. Das löst den Konflikt. Warum an dieser Stelle niemand lacht, bleibt unklar. 

Alles, was Major sagt, dient der weiteren Eskalation. In diesem Zusammenhang argumentiert natürlich auch Röttgen erneut infam. Putin sei mit allem gescheitert, behauptet er. Einer seiner Maßstäbe ist: Drei Tage sollte die militärische Spezialoperation dauern, sie dauert nun aber schon über ein Jahr. Allerdings wurden nur wenige Tage nach Beginn tatsächlich Friedensverhandlungen aufgenommen. Zunächst in Weißrussland, die dann in der Türkei fortgesetzt und kurz vor dem Abschluss vom Westen hintertrieben wurden.

Putin präsentierte beim Besuch der afrikanischen Delegation zur Suche nach einer diplomatischen Lösung im Ukraine-Konflikt in Moskau das unterschriftsreife Dokument, mit dem der Krieg bereits im Mai des vergangenen Jahres hätte beendet werden können – wenn man es denn gewollt hätte. Man wollte aber nicht, lieferte Waffen und eskalierte.

Dieser Kontext wird in der Sendung komplett verschwiegen. Röttgen behauptet mehrfach, er wolle so schnell wie möglich Frieden. Man kann es ihm nicht abnehmen. Die Fakten sprechen eine andere Sprache. Es ist der Westen, der diesen Krieg will. Und im Wunsch, diesen Krieg möglichst in die Länge zu ziehen, ist Deutschland ganz vorne mit dabei.

Röttgen benennt ein Ziel der westlichen Kriegsführung deutlich: Ein militärischer Erfolg der Ukraine führt zu politischen Veränderungen in Russland, ist seine große Hoffnung. Es geht darum, einen Sieg über Russland auf Kosten der Ukraine zu erzielen. Es geht um Einmischung, es geht darum, Russland unter die Kontrolle des Westens zu zwingen. Hält man an diesem Ziel fest, ist ein sehr langer Krieg mit weiteren Stufen der Eskalation zu erwarten.

Dass ein militärischer Sieg der Ukraine bevorsteht, daran glaubt faktenresistent Scherbakowa, deren Organisation Memorial aus guten Gründen in Russland als extremistisch eingestuft und somit faktisch verboten wurde. Folgt man den Ausführungen Scherbakowas, versteht man auch, warum: Sie will einen Umsturz. Finanziell unterstützt wurde Memorial übrigens auch aus Deutschland. Ganz vorne mit dabei war die FDP-nahe Friedrich-Naumann-Stiftung.

Die Einseitigkeit der Sicht der in der Runde versammelten Talkshow-Gäste lässt eine Lösung des Konflikts nicht zu. Die Einfältigkeit in der Analyse schließt zielführende Lösungsvorschläge aus. Man fordert Sicherheitsgarantien für die Ukraine, streitet über den richtigen Zeitpunkt für einen NATO-Beitritt, erzählt irgendwas vom Budapester Memorandum und übersieht dabei, dass es Sicherheit nicht nur für die Ukraine, sondern auch für Russland geben muss. Das ist der Grund für den Konflikt, über den sich die Teilnehmer ausschweigen.

Der Westen hat gegen das völkerrechtlich verankerte Prinzip verstoßen, dass nicht ein Land seine Sicherheit auf Kosten eines anderen Landes erhöhen darf. Die Verweigerung von Sicherheitsgarantien für Russland im Dezember 2021, gleichsam am Vorabend des Einmarschs, hat den Konflikt auf die nächste Eskalationsstufe gehoben, die militärische Ebene.

Dass dies gar nicht erst zur Sprache kommt, zeigt, wie sehr man sich in Deutschland im eigenen Narrativ verloren hat. Deutschland fällt mit seiner Verweigerung, historisch und in Abläufen zu denken, für eine Konfliktlösung komplett aus. Aufgrund ihrer Ausrichtung an einem Narrativ, das nicht weiter in Frage gestellt wird, wirken politische Sendungen in Deutschland zunehmend bizarr, einfältig, beinahe infantil und wie aus der Welt gefallen. Man lebt in einer eigenen medial konstruierten Welt, abgeschnitten von der Realität und wünscht einem anderen Land die Instabilität an den Hals.

Was man sich in Russland in Bezug auf Frankreich nicht traut und aus guten Gründen für unangemessen hält, in Deutschland ist man in dieser Hinsicht von jeder Scham befreit. Die Sendung Anne Will war ein erneuter Tiefpunkt des öffentlich-rechtlichen Fernsehens.

Mehr zum Thema – Nur der Eskalation verpflichtet – Maybrit Illner diskutiert über die ukrainische Gegenoffensive

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