Meinung

Diplomatie oder Öl ins Feuer? Multipolare Begleiterscheinungen des Nahostkonflikts

Ein weiterer Krisenherd brennt lichterloh. Nachdem bereits in der Ukraine eine mögliche globale Eskalation in Kauf genommen wurde und wird, werden auch beim aktuellen Israel-Konflikt "keine Gefangenen" gemacht.
Diplomatie oder Öl ins Feuer? Multipolare Begleiterscheinungen des NahostkonfliktsQuelle: www.globallookpress.com © IMAGO/www.imago-images.de

Von Tom J. Wellbrock

Es scheint eine merkwürdige Eigenart der heutigen Zeit zu sein, dass Konflikte und Kriege nicht mehr analysiert, sondern vorschnell bewertet und sofort behandelt werden. Nach den Angriffen der Hamas auf Israel standen die Zeichen des Westens unverzüglich auf Sturm. Verurteilungen der Hamas gingen einher mit massiven Vergeltungsmaßnahmen durch Israel und der Zusicherung des Westens, an der israelischen Seite zu stehen. Während man die emotionalen Reaktionen aus Israel noch verstehen kann, sind die Erwiderungen aus anderen Ländern eine diplomatische Bankrotterklärung.

Der menschliche Faktor

Das Verständnis für die massiven Reaktionen Israels auf die Angriffe muss in eine vernünftige Relation zur Geschichte des Konflikts gesetzt werden. Für die Menschen in Israel hat sich eine Welle der Gewalt über sie ausgebreitet, die eine natürliche Mischung aus Schock, Angst und Wut zur Folge hat. Wenn Raketen einschlagen, Zivilisten erschossen, entführt und gefoltert werden, bleibt für die verängstigten Menschen im Schutzraum oder unter dem Küchentisch keine Zeit für historische Analysen. Sie sehen nur die Aggressoren, und die einzige Möglichkeit, die Angst vor dem Tod zu beenden, ist die Vertreibung oder Vernichtung der Angreifer. Das ist der menschliche Faktor einer Zivilbevölkerung, die das Opfer eines Jahrzehnte dauernden Konflikts ist.

Anders muss man dagegen die politische Ebene betrachten. Für die israelische Führung und das Militär mögen die Angriffe überraschend gekommen sein (Zweifel sind hier allerdings angebracht in Anbetracht des hohen technischen Niveaus, auf dem Israel in allen Bereichen des Militärs und der Geheimdienste ausgestattet ist), doch unvorhersehbar war all das nicht. Die Vertreibung der Palästinenser begann bereits mit der Staatsgründung Israels im Jahr 1948. Seitdem hat es zwar viele Gespräche gegeben, die zur Lösung des Konflikts beitragen sollten, erreicht wurde jedoch faktisch nichts.

Die Palästinenser leben schon sehr lange bedrängt, bedroht und eingeschüchtert auf engem Raum, wir sprechen also von einem Pulverfass, das irgendwann explodieren musste. Bei den NachDenkSeiten ist dazu zu lesen:

"Für uns war es wie der Ausbruch aus einem Gefängnis", sagte eine in Gaza lebende Palästinenserin, die eine Angehörige telefonisch vom Tod eines Cousins informierte, der sich den Kämpfen angeschlossen hatte. Trotz Angst vor der israelischen Rache und den Bombardierungen und trotz Sorge um die eigene Familie haben die Menschen ihre Hoffnung auf die Befreiung aus ihrer unerträglichen Lebenssituation nicht aufgegeben. Die israelische Politik von Einschüchterung, Belagerung, Entrechtung und Entwürdigung der Palästinenser, die Verwüstung und Bombardierung werden auch Israel keinen Frieden bringen. Die völkerrechtswidrige Besatzung der palästinensischen Gebiete muss beendet und ein souveräner Staat Palästina anerkannt werden. Dazu gibt es keine Alternative."

Auch das ist der menschliche Faktor einer Zivilbevölkerung, aber er wird im Westen ignoriert. Und so sehr man die zivilgesellschaftliche und die politische Ebene voneinander trennen muss, so stark vermischen sie sich doch miteinander. Denn je mehr Leid entsteht, desto größer wird die Gefahr, dass sich die Bevölkerungen radikalisieren und im Umgang mit der anderen Seite immer unversöhnlicher werden. Es ist eine Folge der jahrzehntelangen Kämpfe, der Verletzungen, der Herabwürdigungen, der Toten und der Eskalation der Positionen, die dazu führt, dass Palästinenser die Angriffe der Hamas auf der Straße feiern.

Für Außenstehende sind solche Reaktionen nicht nachvollziehbar und ein Zeichen menschlicher Grausamkeit. Doch was sich über zig Jahre aufgebaut hat, vermag der Mediennutzer, der ebenso lange die Entwicklungen in Israel und Palästina nicht zur Kenntnis genommen hat, nicht zu beurteilen, geschweige denn nachzuempfinden. Hier geht es um lang andauernde und in der Summe zutiefst verstörende Erlebnisse, die die menschliche Psyche vor Herausforderungen stellen, denen sie in den meisten der Fälle nicht gewachsen ist.

Deutsche Reaktionen

Die Reaktionen in Deutschland auf den Konflikt zwischen Israel und Palästina sind im Wesentlichen in zwei Gruppen aufzuteilen:

  1. Opferzahlen

  2. Gesinnungsethik

Es fällt auf, wenngleich es nicht überrascht, dass in deutschen Medien in erster Linie israelische Opferzahlen genannt werden. Unterschieden wird also zwischen Tätern (deren Opfer nur mäßig relevant sind) und Opfern, deren ausgelöschte Leben die Begründung für entsprechende Gegenmaßnahmen sind. Doch Opferzahlen ersetzen keine Analyse des Krieges, sie emotionalisieren und entsachlichen die Debatte, erst recht, wenn es "gute" und "schlechte" Opfer gibt. So sehr die beteiligten Zivilisten innerhalb dieses Konflikts das Recht haben, ihre Gefühle in den Vordergrund zu stellen (was sollten sie auch anderes tun?), so wenig zielführend ist es, wenn in politischer Verantwortung Tätige sich ebenfalls davon einfangen lassen oder bewusst diese Praxis wählen.

Womit wir bei der gesinnungsethischen Bewertung des Konflikts sind. Die Reaktionen deutscher Politiker deuten in erster Linie auf eine völlig fehlgeleitete emotionale Handlungsweise hin. Man kann es nicht oft genug sagen: Das ist Gift für die Lösung jedes Konflikts. Schauen wir uns die türkische und die russische Reaktion auf den aktuellen Konflikt an:

"Nach einem Telefongespräch fordern der russische Präsident Putin und der türkische Präsident Erdoğan sowohl die Hamas als auch die Führung Israels auf, die kriegerischen Handlungen einzustellen. Die Lösung des Konflikts liege nur in einem eigenen Staat der Palästinenser in den Grenzen von 1967."

Eine ähnliche Reaktion erfolgte aus China:

"Dabei hat Xi eine Zwei-Staaten-Lösung vorgeschlagen, die China nun als Reaktion auf den neu aufgeflammten Konflikt nochmal bekräftigt hat. Dies sei die einzige Lösung im Nahost-Konflikt. Nach den Vorstellungen Chinas soll Palästina ein eigener Staat sein in den Grenzen von 1967 - mit Ostjerusalem als Hauptstadt."

Jene Zwei-Staaten-Lösung spielt in deutschen Medien faktisch keine Rolle. Allerdings hat sich Deutschlands undiplomatische Außenministerin mit folgenden Worten geäußert:

"'Durch diesen Terror wurde das alles in die Luft gesprengt', sagte Baerbock. 'Es ist eine Zäsur, deswegen ist oberstes Gebot in der jetzigen Stunde, gerade für uns als Deutsche, als Europäer: Die Sicherheit Israels ist deutsche Staatsräson, wir stehen an der Seite Israels.' Dessen 'Recht auf Selbstverteidigung' sei 'legitim'."

"In die Luft gesprengt" wurde laut Baerbock die Zwei-Staaten-Lösung, was interessant ist, denn wann hat sich die Außenministerin für eine solche Lösung eingesetzt?

Nicht weniger schlicht, aber sehr aussagekräftig, schreibt die Tagesschau unter der Überschrift "Peking bezieht nicht eindeutig Stellung":

"Nach dem Großangriff der Hamas auf Israel schauen viele auf China. Wie verhält sich einer der Global Player der Weltpolitik? Nicht eindeutig: Peking verurteilt pauschal jegliche Gewalt."

Was auffällt: Während Länder wie die Türkei, Russland und China sich explizit für diplomatische Lösungen aussprechen, gießt Baerbock Öl ins Feuer und "sitzt auf geladenen Waffen". Wie schon beim Ukraine-Konflikt fällt der deutschen Chefdiplomatin erneut nur Gewalt, Krieg und Eskalation ein, um Gewalt, Krieg und Eskalation zu "verhindern".

Und: Was ist daran "nicht eindeutig Stellung" beziehen, wenn China "pauschal jegliche Gewalt" verurteilt? Wäre es eindeutiger, wenn die Gewalt der einen Seite verurteilt und die andere gelobt wird?

Der große Knall?

Was ebenfalls auffällt, ist die Verantwortungslosigkeit und die Risikobereitschaft westlicher Länder. Selbst die Tatsache, dass Israel völkerrechtswidrig eine Total-Blockade des Gazastreifens angekündigt hat, stößt auf nur wenig Kritik.

Einmal mehr sei Karin Leukefeld zitiert:

"Ein neuer Krieg in der Region wird unvorhersehbare Folgen haben. Er wird nicht auf Israel und die besetzten palästinensischen Gebiete beschränkt bleiben, sondern Libanon, Syrien, Jordanien und weitere Teile der Region einbeziehen. Die schrecklichen Folgen für Leben und Gesundheit der Zivilbevölkerung, die in den besetzten palästinensischen Gebieten und den arabischen Nachbarstaaten schon lange am Limit lebt, sind bereits bei der aktuellen Bombardierung des Gazastreifens zu sehen. Ob mit oder ohne Krieg deuten sich massive Machtverschiebungen in der Region an, die Israel – und seine Verbündeten im Westen – schwächen und die Kräfte der Region stärken werden."

Höchstes Gebot wäre also, alles dafür zu tun, um eine Ausweitung des Konflikts zu verhindern. Die Folgen könnten weitreichend und existenziell sein, und jeder Tropfen Öl, der in dieses Feuer gegossen wird, trägt zu mehr Gewalt und womöglich einem großen heißen Krieg bei.

Multipolare Konflikte?

Es ist bezeichnend, dass die Konflikte der Welt in diesen Zeiten zunehmen. Der Ukraine-Krieg hätte schon im Vorfeld durch vernünftige Politik verhindert werden können. Der Israel-Palästina-Konflikt gärt ebenfalls schon viel zu lange, und die Weltgemeinschaft hat es versäumt, dagegen etwas zu unternehmen. Die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Krisen in zahlreichen westlichen Ländern tragen sicher dazu bei, sich in die Krisenherde der Welt einzumischen, denn es ist ein altes Gesetz, dass innenpolitische Probleme durch Kriege in neue Aufmerksamkeitslinien gelenkt werden können.

Womöglich sind die derzeitigen Konflikte (derer es ja weit mehr als die beiden genannten gibt) auch eine Begleiterscheinung der gerade neu entstehenden, multipolaren Welt. Die auf Unipolarität fixierten Länder wanken oder straucheln bereits aufgrund selbst erzeugter Probleme, die multipolar ausgerichteten Länder bereiten sich intensiv auf die neue Weltordnung vor. Und es war vorhersehbar, dass die westlichen Länder sich nicht kooperativ, sondern konfrontativ mit der Multipolarität beschäftigen würden.

Man muss also befürchten, dass der Wechsel zu einer multipolaren Welt nicht nur längst begonnen hat, sondern der Kampf dagegen von deren Gegnern in vollem Gange ist.

Tom J. Wellbrock ist Journalist, Sprecher, Texter, Podcaster, Moderator und Mitherausgeber des Blogs neulandrebellen.

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