Meinung

Tweet gegen Putin: Ist Scholz wirklich der Mann, der einen Stein werfen sollte?

Er muss sich wirklich für einen tollen Hecht halten. Und einen ganz, ganz guten Menschen, umgeben von den ebenso guten Habeck, Baerbock, Faeser ... Bei seinem jüngsten Tweet kann man ihn dabei erwischen, wie ihm diese Überzeugung in die Tasten rinnt.
Tweet gegen Putin: Ist Scholz wirklich der Mann, der einen Stein werfen sollte?Quelle: www.globallookpress.com © Michael Kappeler

Von Dagmar Henn

Man kennt es ja schon, dass Äußerungen aus der Bundesregierung je nach Interessenlage entweder extrem emotionalisierend sind oder Fakten, die nicht ins Konzept passen, herunterspielen. Das war anhand der Reaktionen auf den Terror der Hamas verglichen mit dem Terror der israelischen Armee deutlich zu sehen.

Nun hat Bundeskanzler Olaf Scholz auf die Bemühungen des russischen Präsidenten Wladimir Putin (und anderer Vertreter der russischen Regierung, wie UN-Vertreter Nebensja oder Außenminister Sergei Lawrow, die für Scholz wohl alle irgendwie Putin sind) zu einer Waffenruhe mit einem Tweet reagiert:

Wirklich? Wenn die israelischen Angriffe auf den Gazastreifen eines belegt haben, dann, dass die russische Militäroperation in der Ukraine tatsächlich ungewöhnlich stark darauf achtet, das Leben von Zivilisten zu schonen. Würde sie so vorgehen wie jetzt die israelische Armee, ginge die Zahl der zivilen Opfer in der Ukraine längst in die Millionen.

Aber darin steckt noch mehr. Scholz erklärt, dass der russische Präsident sich nicht zugunsten der Zivilbevölkerung – egal wann, egal wo – verwenden dürfe, weil er seinen, Scholz´, moralischen Kriterien nicht genügt. Das ist es, was er mit seiner Kennzeichnung als "zynisch" ausdrückt.

Nun ist der Cum-Ex-Kanzler objektiv betrachtet niemand, der aufs moralische hohe Ross steigen sollte, und seine Ansichten sind, global gesehen, spätestens seit Nord Stream ohne jede Relevanz. Aber er drückt damit einen Geisteszustand aus, der in Deutschland in Politik und Medien weit verbreitet ist, ein völliges Unverständnis für und eine völlige Unfähigkeit zum Frieden.

Scholz scheint sich nie in seinem Leben die Frage gestellt zu haben, wie es überhaupt möglich ist, von einem Krieg zu einem Frieden zu gelangen. Dass dies immer, überall, zu jeder Zeit nur möglich ist, indem Parteien, die einander zuvor nach dem Leben trachteten, miteinander friedlich umgehen. Selbst in dem vergleichsweise seltenen Fall vollständiger Siege und bedingungsloser Kapitulationen ist das so; die einzige Ausnahme davon ist, dass das Gegenüber schlicht nicht mehr existiert.

Wie man in den letzten Jahren in Deutschland beobachten konnte, ist es nicht allzu schwer, unterschiedlichste Gruppen zum Feind zu erklären. Das funktioniert auch mit der Mentalität eines Kleinkinds. Der Schritt in die andere Richtung ist wesentlich schwieriger. Man muss nämlich immer Menschen die Hände reichen (oder, in der Stellung eines Vermittlers, Menschen dazu bewegen, einander die Hände zu reichen), die das Ebenbild des Bösen scheinen. Kriege führt man nicht mit dem netten Nachbarn.

Die erste Voraussetzung dafür, selbst zur Schaffung von Frieden fähig zu sein, ist, das Gegenüber, gleich, was man sonst von ihm denkt, selbst, gleich, was man sonst von ihm weiß, als Menschen wahrzunehmen und zu respektieren. Das kostet Überwindung und benötigt starke moralische Prinzipien. Und zwar nicht von der Sorte, die sich in zwei Zeilen der Empörung fassen lassen.

Wer, bitte, darf sich nach Meinung des Olaf Scholz für den Schutz der Zivilbevölkerung einsetzen? Er selbst? Auch wenn man seine reichlich bekleckerte Weste betrachtet, die im Grunde jede moralische Überheblichkeit untersagen sollte, er scheint zwar überzeugt zu sein, dass er dies im Gegensatz zum russischen Präsidenten dürfe, tut es aber nicht. Nicht einmal ansatzweise.

Er vertritt, wie seine gesamte Regierung, die Position, dass die Frage, wer Gut und wer Böse sei, alles entscheide und man auf jeden Fall auf der Seite des Guten stehen müsse. Wer ein bisschen ausgeprägtere historische Kenntnisse besitzt als dieser Kanzler, weiß sehr wohl, dass die Frage von Gut und Böse nicht ganz so einfach beantwortet werden kann. Nur ein ganz nüchternes Beispiel: Nach den Kriterien der Bundesregierung war die Regierung in Sri Lanka, die Kunstdünger abschaffte und versuchte, auf erneuerbare Energien umzustellen, gut; sie hat alles richtig gemacht. Tatsächlich löste diese Politik eine Hungersnot aus. Kann man das ernsthaft unter dem Etikett "gut" subsumieren? Das Mindeste, was zu erwarten wäre, ist, die eigenen Kriterien des Guten immer wieder zu überprüfen ...

Es gibt in jedem Konflikt, wo auch immer und wann auch immer, zwei Ebenen. Das eine ist die Ebene des Interesses – das ist die Ebene, die den Konflikt auslöst. Und dann gibt es die Ebene der Rechtfertigung. Da tauchen dann moralische Begriffe, Bewertungen und Erzählungen auf. Scholz kommuniziert immer auf der Ebene der Rechtfertigung. Die aber führt nirgendwo hin, wenn es um Krieg und Frieden geht. Nicht einmal, wenn es "nur" um den Schutz Unbeteiligter geht.

Denn selbst um diesen Schutz zu erreichen, ist es erforderlich, die Schwelle zu überschreiten und genau jene als Gesprächspartner zu akzeptieren, die man selbst für böse hält. Ein Korridor für humanitäre Lieferungen kann nur eingerichtet werden, wenn mit der anderen Seite verhandelt wird. Wenn es um wirkliche Lösungen geht, stellt sich die Frage noch dringender.

Scholz befasst sich mit Eifer mit Schuldzuweisungen; das zeigt der Tonfall, in dem er auf die prinzipiell gleich verbrecherischen Handlungen des Hamas-Überfalls und der israelischen Angriffe sehr unterschiedlich reagiert. Nun, es ist unzweifelhaft wichtig, wahrzunehmen, wie die heutige Situation entstehen konnte, aber im Falle Israel-Palästina führt die Debatte, wer wann wo angefangen hat, letztlich ins Nirgendwo. Diejenigen, die angefangen haben, sind auf jeden Fall tot und begraben. Wie aber soll in der Gegenwart irgendeine Form von Lösung möglich sein, wenn mögliche Gesprächspartner nach oberflächlichen moralischen Kriterien ausgeschlossen werden?

Vielleicht ist es ja ein Fehler, so sehr darauf zu achten, dass Kinder gewaltfrei miteinander umgehen. Weil sie dann nie die Erfahrung machen, dass die Frage, wer angefangen hat, in keinem Fall weiterhilft. Weil sie mit der Erwartung aufwachsen, dass man gut durchs Leben kommt, wenn es einem gelingt, sich selbst möglichst edel in Szene zu setzen. Und vor allem – es fehlt die wichtige Erfahrung, dass aus denen, die sich heute verhauen, morgen die dicksten Freunde werden können.

Dass Scholz mit seinem Kommentar über die Fakten hinweggeht, die gerade Russland eine einzigartige Position als Vermittler ermöglichen, weil auf der einen Seite enge, jahrzehntealte Beziehungen zu arabischen Staaten bestehen und auf der anderen in Israel Millionen Russischstämmiger leben, das ist das eine. Dass ihm selbst die Grundlagen abgehen, die überhaupt Schritte zu einem Frieden ermöglichen, das andere. Gekrönt wird das noch von dem Aberglauben, wenn man Israel jetzt militärisch machen lasse und alle Zweifel daran unterdrücke, sei das im Interesse der israelischen Bevölkerung. Als ließe sich die materielle Tatsache, dass die Bevölkerung der Nachbarländer um ein Vielfaches größer ist, durch zwei US-Flugzeugträgergruppen oder durch heftiges Wunschdenken verändern.

Die Krönung ist aber sein fundamentales Missverständnis des moralisch Guten. Es gab einmal Zeiten, in denen die deutsche Philosophie gerade diese Frage auf vielfache und sehr profunde Weise beantwortet hat. Übrigens ohne jeden Rückgriff auf einen religiösen Rahmen.

Aber nicht einmal jene Variante, die sich aus der christlichen Tradition ergäbe, scheint Scholz vertraut. Auch dort gibt es Begriffe wie Vergebung und Demut; und es heißt: "Wer unter euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein."

Nein, das, was Scholz für Moral hält (oder was er zumindest nach außen hin als Moral verkündet), ist das Abarbeiten einer Strichliste, und wer nicht hinter jedem Punkt dieser Strichliste ein Häkchen aufweist, ist böse, unmoralisch und damit nicht mehr sein Freund. Das passt zwar wunderbar zum Niveau des Kasperletheaters namens "Ethikrat", hat aber nichts mehr mit der grundlegenden Funktion von Moral zu tun, die das menschliche Zusammenleben erleichtern soll.

Scholz sollte einmal einen Blick auf die mittelalterlichen Darstellungen der sieben Todsünden werfen. Als schlimmste darunter galt der Hochmut, die Überheblichkeit. Was ein klein wenig damit zu tun haben könnte, dass sie sozial den dauerhaftesten Schaden anrichtet, weil sie den Ausweg aus jedem Konflikt verbaut. Neid, Völlerei, Habgier, Wollust, Trägheit und Zorn sind allesamt keine angenehmen Eigenschaften. Aber es ist der Hochmut, der jede Selbsterkenntnis verhindert und damit die Möglichkeit zur Menschlichkeit, die immer darauf beruht, die Gleichheit des Gegenübers zu akzeptieren, verbaut.

Scholz ist vermutlich davon überzeugt, es mit diesem Tweet dem russischen Präsidenten so richtig gezeigt zu haben. In Wirklichkeit ist das seine moralische, politische und diplomatische Bankrotterklärung.

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