Meinung

Pepe Escobar: Russlands Neutralitätsballett im Konflikt zwischen Israel und Palästina

Während einige Schwergewichte in der russischen Politik darauf drängen, Israel als unfreundlichen Staat zu deklarieren, ist es unwahrscheinlich, dass der Kreml diesen Forderungen nachkommen wird. Stattdessen wird Moskau wohl "neutral" bleiben, um seinen Einfluss in Westasien zu maximieren.
Pepe Escobar: Russlands Neutralitätsballett im Konflikt zwischen Israel und PalästinaQuelle: Sputnik © Alexander Krjaschew, RIA Nowosti

Von Pepe Escobar

Ist es möglich, dass der russische Präsident Wladimir Putin, von dem bekannt ist, dass er dem jüdischen Volk gegenüber freundlich gesinnt ist, seine geopolitische Einschätzung Israels überdenkt? Diese Frage als jene Schlüsselfrage zu bezeichnen, die man sich derzeit in Moskaus Korridoren der Macht stellt, ist im Grunde genommen eine Untertreibung. Es gibt von außen betrachtet keine Anzeichen für eine seismische Verschiebung in der Haltung von Präsident Putin gegenüber dem jüdischen Volk und Israel als Ganzem – zumindest nicht, wenn es um die offizielle "neutrale" russische Position zum nicht enden wollenden Drama zwischen Israel und Palästina geht.

Mit Ausnahme einer unerwarteten Äußerung am vergangenen Freitag auf dem Gipfel der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) in Bischkek, der Hauptstadt von Kirgisistan, als Putin Israels "grausame Methoden" durch die Blockade des Gazastreifens kritisierte und diese mit "der Belagerung Leningrads während des Zweiten Weltkriegs" verglich. "Das ist inakzeptabel", erklärte der russische Präsident und erinnerte daran, dass wenn alle 2,2 Millionen Zivilisten im Gazastreifen leiden müssten, darunter auch Frauen und Kinder, dies niemand akzeptieren dürfe.

Putins Äußerungen könnten ein Hinweis auf Veränderungen gewesen sein, die in den frustrierend undurchsichtigen Beziehungen zwischen Russland und Israel im Gange sind. Knapp dahinter folgt ein sehr wichtiger Artikel, der vergangenen Freitag auf Wsgljad veröffentlicht wurde, einem dem Kreml nahestehenden Blog zum Thema Sicherheitsstrategien, mit dem Titel "Warum Russland im Konflikt im Nahen Osten neutral bleibt".

Es ist wichtig anzumerken, dass die Redaktion von Wsgljad noch vor sechs Monaten in einem Leitartikel nahezu einen Konsens mit den russischen Geheimdiensten vertrat und Moskau aufforderte, sein beträchtliches politisches Gewicht auf die Unterstützung des wichtigsten Themas für die arabische und islamische Welt zu verlagern.

Der Leitartikel erwähnte bereits die wichtigsten Punkte, die Putin in Bischkek geäußert hat: Es gibt keine Alternative zu Verhandlungen.

Tel Aviv wurde einem brutalen Angriff ausgesetzt und hat das Recht, sich zu verteidigen. Eine echte Befriedung ist nur über einen unabhängigen palästinensischen Staat mit der Hauptstadt Ostjerusalem möglich.

Der russische Präsident befürwortet die ursprüngliche "Zwei-Staaten-Lösung", die von den Vereinten Nationen beschlossen wurde, und ist der Ansicht, dass ein palästinensischer Staat "auf friedlichem Weg" gegründet werden sollte. Doch sosehr der aktuelle Konflikt "eine direkte Folge der gescheiterten Politik der Vereinigten Staaten im Nahen Osten ist", lehnt Putin die Pläne Tel Avivs ab, eine Bodenoperation in Gaza zu lancieren.

Diese mit Bedacht geäußerten Bemerkungen sind gewiss ein Beweis dafür, dass Putin sich nicht zu dem bekennt, was im Generalstab, bei den Strippenziehern in den Geheimdiensten – den sogenannten Silowiki – und in seinem Verteidigungsministerium nahezu einem Konsens entspricht: Dort stellt man sich auf den Standpunkt, dass Israel de facto ein gegenüber der Russischen Föderation unfreundlicher Staat sei, gemeinsam in einer Allianz mit der Ukraine, den USA und der NATO.

Folge dem Geld

Tel Aviv war äußerst vorsichtig, Russland in Bezug auf den Konflikt mit der Ukraine nicht offen zu verärgern. Dies könnte direkt mit der notorisch freundlichen Beziehung zwischen Putin und dem israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu in Zusammenhang stehen.

Weitaus folgenreicher als Israel auf dem geopolitischen Schachbrett sind jedoch die sich entwickelnden Beziehungen Moskaus zu den arabischen Staaten, insbesondere zum OPEC-Partner Saudi-Arabien, das dazu beigetragen hat, westliche Bemühungen zur Übernahme der Kontrolle über die Ölpreise zu vereiteln.

Von zentraler Bedeutung für Russlands Gestaltung seiner Politik in der Region Westasien ist auch die strategische Partnerschaft mit Iran, die in Syrien und im Kaukasus Früchte getragen hat und dazu beiträgt, den Expansionismus der USA einzudämmen. Schließlich ist das komplexe, vielschichtige Hin und Her zwischen Moskau und Ankara von entscheidender Bedeutung für die wirtschaftlichen und geopolitischen Ambitionen Russlands in Eurasien.

Alle drei westasiatischen Mächte sind mehrheitlich muslimische Staaten, wichtige Partner für die multipolare Vision Russlands, in dem ebenfalls eine beträchtliche muslimische Bevölkerung lebt. Und für diese drei regionalen Akteure überschreiten die derzeitigen kollektiven Strafmaßnahmen gegen die Bevölkerung von Gaza ohne Unterschied jede mögliche rote Linie.

Zudem spielt Israel in den finanzpolitischen Überlegungen Moskaus keine so große Rolle mehr. Seit den 1990er Jahren flossen riesige Mengen russischer Gelder nach Israel. Aber jetzt fließt ein erheblicher Teil dieser Gelder zurück nach Russland. Der berüchtigte Fall des Milliardärs Michail Friedman veranschaulicht diese neue Realität in bester Weise. Der Oligarch verließ seine Wahlheimat Großbritannien und siedelte eine Woche vor Beginn der Operation Al-Aqsa-Flut nach Israel über. Der Beginn der Operation der Hamas veranlasste ihn, sich hastig seinen russischen Pass zu schnappen und sich aus Sicherheitsgründen nach Moskau abzusetzen.

Friedman, der die Alfa-Gruppe leitet, die in den Bereichen Telekommunikation, Bankenwesen, Einzelhandel und Versicherungen tätig ist und ein wohlhabender Überlebender der russischen Finanzkrise von 1998 ist, wird von den Russen verdächtigt, bis zu 150 Millionen US-Dollar an das feindliche Regime in Kiew "gespendet" zu haben. Die Reaktion des Duma-Sprechers Wjatscheslaw Wolodin hätte nicht schärfer sein können – oder weniger besorgt über die Reaktion Israels in dieser Angelegenheit:

"Jeder, der das Land verlassen und verwerfliche Taten begangen hat, Raketen auf russischem Territorium abgefeiert und dem Nazi-Regime in Kiew den Sieg gewünscht hat, sollte sich darüber im Klaren sein, dass er hier nicht nur unerwünscht ist, sondern, wenn er dennoch zurückkehrt, Magadan auf ihn wartet."

Magadan war in der Ära von Stalin ein berüchtigter Durchgangsbahnhof auf dem Weg in den Gulag. 

Russophobie trifft auf kollektive Bestrafung

Während der kollektive Westen sich auf ein zwanghaftes "Wir sind jetzt alle Israelis" verständigte, besteht die Strategie des Kremls darin, sich in diesem Konflikt sichtbar als bestmöhlicher Vermittler zu positionieren – nicht nur für die arabische und muslimische Welt, sondern auch für den globalen Süden und somit für die globale Mehrheit. Das war auch der Zweck des russischen Resolutionsentwurfs im UN-Sicherheitsrat, der einen Waffenstillstand in Gaza forderte – und der vorhersehbar von den üblichen Verdächtigen zurückgewiesen wurde.

Die drei ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats – die USA, Großbritannien und Frankreich sowie ihre Neokolonie Japan – stimmten dagegen. Für den Rest der Welt sah es genau nach dem aus, was es war: irrationale westliche Russophobie, zelebriert von Marionettenstaaten der USA, die Israels völkermörderische Bombardierung des Gazastreifens befürworten.

Inoffiziell weisen Geheimdienstanalysten darauf hin, dass sich der russische Generalstab, der Geheimdienstapparat und das Verteidigungsministerium organisch mit der globalen Stimmung zu Israels exzessiven Aggressionen gegen Gaza im Einklang sehen. Das Problem besteht darin, dass es in Russland keine offizielle und öffentliche Kritik an der dauerhaften psychotischen Aufstachelung zur Gewalt durch Netanjahu gibt. Das gilt ebenso für seinen rechtsnationalen Sicherheitsminister Itamar Ben-Gvir und seinen Finanzminister Bezalel Smotrich.

Insider in Moskau bestehen darauf, dass die offizielle "neutrale" Position des Kremls im direkten Konflikt mit den russischen Verteidigungs- und Sicherheitsbehörden steht – insbesondere mit den Geheimdiensten GRU und SVR –, die niemals vergessen werden, dass Israel direkt an der Tötung von Russen in Syrien beteiligt war.

Diese Ansicht hat sich im September 2018 verfestigt, als die israelische Luftwaffe ein elektronisches Aufklärungsflugzeug vom Typ Iljuschin-20M als Deckung gegen eine syrische Luftabwehrrakete missbrauchte, wodurch statt des israelischen Kampfflugzeugs die Iljuschin abgeschossen wurde und alle 15 Russen an Bord ums Leben kamen.

Dieses Schweigen in den Korridoren der Macht spiegelt sich im Schweigen im öffentlichen Raum wider. In der Duma gab es keine Debatte über die russische Position zum Konflikt zwischen Israel und Palästina. Und seit Anfang Oktober auch keine Debatte im russischen Sicherheitsrat.

Doch Patriarch Kirill, das Oberhaupt der Russisch-Orthodoxen Kirche, gab einen subtilen Hinweis und betonte, dass "ein friedliches Zusammenleben eine religiöse Dimension" habe und einen "gerechten Frieden" erfordere. Dies steht nicht ganz im Einklang mit der angekündigten ethnischen Säuberung von "menschlichen Tieren" – Zitat des israelischen Verteidigungsministeriums – in Gaza.

Auf einigen Kanälen im Kreml, die in der Nähe der Macht verlaufen, gibt es ein alarmierendes Gerücht über ein kompliziertes Geschacher, das im Schatten stattfinde, eines, das zwischen Moskau und Washington stattfinde, bei dem die USA Israel unter Kontrolle bringen würden, im Gegenzug dafür, dass die Russen die Ukraine aufräumen.

Während Letzteres den bereits laufenden Prozess des Westens besiegeln würde, den Schauspieler aus Kiew in seinem verschwitzten T-Shirt fallen zu lassen, ist es höchst unwahrscheinlich, dass der Kreml einem Abkommen mit den USA vertrauen wird – und schon gar nicht einem, das den russischen Einfluss im strategischen wichtigen Westasien marginalisieren würde.

Die Zwei-Staaten-Lösung ist tot

Russlands Ballett der Neutralität wird weitergehen. Moskau machte Tel Aviv klar, dass selbst im Rahmen seiner strategischen Partnerschaft mit Iran keine Waffen exportiert werden, die eine Bedrohung für Israel darstellen könnten – etwa dadurch, dass diese Waffen letztendlich bei der Hisbollah und der Hamas landen. Die Gegenleistung dieser Vereinbarung wäre, dass Israel auch nichts an Kiew liefert, das Russland bedrohen könnte.

Doch im Gegensatz zu den USA und Großbritannien wird Russland die Hamas nicht als Terrororganisation einstufen. Kremlsprecher Dmitri Peskow hat sich in dieser Frage sehr deutlich geäußert: Moskau halte die Kontakte zu beiden Seiten aufrecht. Die oberste Priorität sei, "das Interesse der russischen Bürger des Landes zu wahren, die sowohl in Palästina als auch in Israel leben". Russland bleibe "eine Partei, die das Potenzial hat, sich an Lösungsprozessen zu beteiligen".

Natürlich kann die Neutralität auch in eine Sackgasse geraten. Für die vom Kreml aktiv umworbenen arabischen und muslimischen Staaten sollte die Zerschlagung des zionistisch geführten Siedlerkolonialismus "höchste Priorität" haben. Dies impliziert, dass die Zwei-Staaten-Lösung praktisch tot und begraben ist. Dennoch gibt es keinen Hinweis darauf, dass irgendjemand, nicht zuletzt Moskau, bereit wäre, dies zuzugeben.

Dieser Meinungsbeitrag erschien zuerst in englischer Sprache auf The Cradle.

Pepe Escobar ist ein unabhängiger geopolitischer Analyst und Autor. Sein neuestes Buch heißt "Raging Twenties" (Die wütenden Zwanziger). Man kann ihm auf Telegram und auf X folgen.

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